Novelle

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Altes Röhrenradio

Von Florian Bellows.

Das Klirren von Eiswürfeln in einem Glas voller Feuerwasser.

Der Bourbon hinterlässt einen feuchten Halbmond auf dem Holztisch, als Maxim ihn abstellt. Er legt die Füße hoch. Die Schuhe hat er sich schon vorher in der Garderobe abgestreift und achtlos in die Ecke geschleudert. Nun versucht er, sich die Krawatte vom Hals zu ziehen. Nicht ganz einfach mit einem Telefon in der Hand.

„So. Jetzt können wir reden“, sagt er in die Löcher im Plastik. Die Krawatte will ihm einfach nicht über den Kopf gleiten. Maxim gibt es auf. Der schwarze Strick aus Seide baumelt ihm wie eine Schlinge um den Hals.

„Geht es dir gut?“, fragt eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie klingt zu gleichen Teilen besorgt und schuldbewusst.

„Wie soll es mir gehen? Ich habe heute meinen Vater beerdigt.“

Stille am anderen Ende. Maxim betrachtet das Glas Bourbon auf dem Couchtisch. Es ist sein Drittes an diesem Abend. Die beiden zuvor hatten seinen Durst nicht gestillt.

„Ich denke, den Umständen entsprechend, gut. Meiner Mutter weniger. Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, hatte sie einen Nervenzusammenbruch. Hat angefangen, hysterisch zu weinen. Mein Onkel hat sie weggeführt, weil sie sich nicht mehr beruhigen ließ.“

Maxim schluckt Luft. Irgendetwas klickt in seiner Kehle.

„Ich habe die erste Schaufel Erde auf den Sarg geworfen.“

Plötzlich outgesourcte Klaustrophobie. Der Gedanke, in einer Kiste im Erdreich vergraben zu liegen, treibt Maxim Schweiß auf die Lippen. Er kann sich nicht vorstellen, wie die Seele entweichen soll, wenn der Körper unter einer Tonne Erde hermetisch versiegelt ist. Er war für eine Feuerbestattung gewesen. Seine Mutter wollte aber unbedingt bei ihrem Mann begraben werden und das war bei einem Urnengrab unmöglich.

Das Salz auf seinen Lippen schmeckt gut. Es brennt. Ein echtes Gefühl.

„Es tut mir so leid“, sagt die Frauenstimme.

„Um meine Mutter oder dass du nicht hier bist?“

Ein Japsen nach Luft von einem Stich ins Herz.

„Du weißt, wie gerne ich gekommen wäre.“

Helena ist auf Geschäftsreise. Sie hätte gestern, pünktlich zur Beerdigung, nach Hause kommen sollen, aber ihr Geschäftswagen war mit einem Motorschaden mitten in der Pampa liegen geblieben. Sie hatte noch einen Abschleppwagen organisiert, für einen Leihwagen war es aber zu spät gewesen. Sie hatte sich für das Wochenende ein billiges Hotel-Zimmer genommen.

Nicht, dass es Maxim kümmert. Helena betrügt ihn und das weiß er.

„Ich wette, du hättest deinen Spaß gehabt!“, sagt Maxim.

Dieses Mal bleibt die Stille geräuschlos. „Meine Mutter als Scherbenhaufen zu sehen, hätte dir bestimmt gefallen.“

Nur das Knistern von freien Elektronen in der Leitung.

„Wie kannst du so etwas sagen?“

„Ist es denn nicht wahr?“, fragt Maxim.

„Hast du getrunken, Maxim?“ Sein Name am Ende der Frage ist die Aufforderung, zur Vernunft zu kommen. Als würde man mit einem Kind schimpfen. Maxim steht kurz davor, zu explodieren. Er möchte Helena den Hörer in den Arsch stecken.

„Kann sein. Kannst du den Bourbon durch das Telefon riechen?“

Maxim weiß es. Er lallt.

„Maxim, es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Und dass du so von mir denkst. Gute Nacht. Wenn du mich später noch einmal anrufen möchtest – meine Nummer hast du ja. Ich gehe jetzt ins Bett, aber wenn du reden willst, darfst du mich jederzeit wecken.“

Ich kann dir jederzeit ein Telefon in den Arsch schieben, denkt Maxim. Kurz denkt er an den Revolver in seiner Nachttischschublade. Ein Geistesblitz.

„Gute Nacht, Schlampe!“, sagt er und legt auf.

Leitung tot. Dröhnen im Schädel. Kein Rückruf. Er wartet zehn Minuten. Umsonst. Der Bourbon steigt ihm zu Kopf. Trotzdem bereut er nicht, was er getan hat. Es ist an der Zeit, sein Leben aufzuräumen.

Maxim schmeißt das Telefon gegen die Wand, wo es zerspringt. Die Batterien schießen wie Murmeln durch den Raum und verschwinden unter dem Sofa. Er nimmt den Bourbon vom Tisch, kippt den Restinhalt hinunter und wirft dann auch das Glas gegen die Wand. Tropfen braunen Destillats mischen sich mit weißer Wandfarbe. Auf dem Weg ins Schlafzimmer tritt er in eine Scherbe. Dass er aus der Ferse blutet, merkt er nicht.

Er legt sich ins Bett. Die Krawatte hat er sich vom Hals gerissen und im Klo versenkt. Den Anzug hat er anbehalten. Er liegt auf dem Rücken, Füße gerade von sich gestreckt, Arme an den Seiten. Maxim überlegt, ob er die billige Kristall-Deckenleuchte mit einem Besen zerschlagen soll.

„Ob Plastikkristalle zerbrechen können?“, fragt er sich. Dann dreht er sich zur Seite und schließt die Augen.

Hinter seinen Lidern erscheinen Rachegeister der Beerdigung.

Eine endlose Straße trauriger Gesichter.

Sein Vater war Lehrer gewesen. Einer, wie man sie nur selten hat. Einer mit Sinn für Humor. Der sich nicht scheute, über sich selbst zu lachen. Schon als Kind hatte Maxim deswegen Neid auf sich gezogen. So mancher hätte gerne den Platz mit ihm getauscht. Die meisten munkeln, Maxim hat mit seinem Vater nichts gemein. Schiefes Kreuz, kein Funkeln in den Augen. Nichts von dem Charisma war zu ihm übergesprungen. Die ehemaligen Schüler maßen Maxim am Maßstab seines Vaters. Wie konnte ein guter Mann nur so einen Taugenichts als Sohn haben? Maxim hatte den Sarg seines toten Vaters mit gesenktem Kopf getragen.

Am Grab: Er und seine Mutter.

Nachdem Maxims Vater von seiner Krebserkrankung erfahren hatte, hatte auch seine Mutter Gewicht – am Ende sogar Haare – verloren. Couvade-Syndrom des gebrochenen Herzen. Sie war zu einem Schatten ihrer Selbst geworden. Eingefallene Augen, purpurschwarze Augenringe, Haut so dünn wie Papier. Im Geheimen denkt Maxim, dass bald eine weitere Beerdigung ins Haus steht. In seinem Kopf arbeitet er an einer Struktur, einem Schema für Beerdigungen. Einem Ablaufplan. Vielleicht hat er das mit seinem Vater gemein.

Der offene Sarg.

Der Leichenbestatter hatte es irgendwie geschafft, die Wangen plastisch wirken zu lassen. Maxim wusste aber, dass seinem Vater durch die Chemo das Gesicht eingefallen war wie ein missratenes Soufflee. Steckte da wirklich Watte im Gesicht seines toten Vaters? Watte, die sich mit Verwesungsflüssigkeit vollsaugt? Aber nicht nur das. Auch die Farbe. Bei der Besprechung hatte der Bestatter immer wieder betont, wie dezent man seinem Vater Make-Up auftragen würde, um ihm „ein lebendiges Aussehen“ zu geben. Das hatte der Mann tatsächlich gesagt.

Lebendiges Aussehen

Das Gesicht von Roland Denker hatte ausgesehen, als hätte es ein Grundschüler mit Wachsmalstiften ausgemalt.

Maxim öffnet die Augen. Der Blick wandert zur Nachttischschublade. Vielleicht wäre es klug, nicht sein Leben aufzuräumen. Sondern sich. Aus der Welt. Wenn sich die Erde noch nicht gesetzt hat, ist es bestimmt ein Leichtes, das Grab zu erweitern.

Seine Mutter würde ganz zerbrechen. Ihren beiden Männern folgen. Und wer würde dann sie begraben?

Schlechte Idee.

Wie vom Blitz getroffen setzt er sich auf. Der dritte Bourbon war zu viel. Maxim stürmt in das Bad und bedeckt seine Krawatte mit einer Schicht seines Mageninhalts. Im Orangeton seines Erbrochenen sieht der schwarze Strich aus wie eine Mahnung. Sie ist eine Faser des Todes. Eine tote Ader, die sich durch sein Innenleben zieht. Abgestorbenes Gewebe.

Maxims Vater war an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben.

Er kann es nicht ansehen. Maxim drückt er die Spülung. Alles verschwindet in einem wilden Strudel.

Der Fußboden ist kühl. Angenehm auf seiner heißen Haut. Der Anzug spannt. Maxim zieht ihn sich aus und wirft ihn in die Wäschebox. Bis auf die Unterhose und das Unterhemd ist er nackt. Seine Ferse hat aufgehört zu bluten.

Die Tränen kommen still und ungehemmt. Auf dem Fliesenboden sammeln sie sich zu zwei kleinen Pfützen. Maxim bleibt dort eine Weile. Im Bad. Und weint sich den Bourbon aus den Augen.

03:37 auf der Bad-Uhr.

Das Leck versiegt. Maxim steht auf und wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Das tut gut und macht seine Gedanken klar. Er friert.

Maxim geht zurück ins Schlafzimmer, zieht sich seinen Bademantel und Hausschuhe an und wandert ins Wohnzimmer. Hinter seinen Augen pocht es unaufhörlich. Aber er weiß, dass er Schlaf bis zum Morgengrauen vergessen kann.

Er verbraucht seine letzte Kraft, als er die Scherben des Bourbon-Glases zusammenkehrt, das Telefon in den gelben Sack schmeißt und die betupfte Wand mit einem Geschirrtuch bearbeitet und reinigt.

Danach legt er sich auf Sofa. Er spielt mit dem Gedanken, Helena zurückzurufen, sich für seinen Wutausbruch zu entschuldigen. Kurz bevor er die Nummer mit seinem Handy wählt, kommt er zur Besinnung. Statt es gegen die Wand zu schleudern, schaut er auf die Uhr und legt es dann neben sich.

04:52.

Eigentlich könnte er sich an seine Morgenroutine machen. Müsli, Rasieren, Zähneputzen, Duschen. Stattdessen legt er sich auf das Sofa und betrachtet das Erbstück seines Vaters. Ein altes Radio. Ein Blaupunkt Röhrenradio mit einem Gehäuse aus Bakelit. Es hat die Farbe von Staub und dunklem Ostseebernstein. Wenn man es anschaltet, leuchtet ein magisches Auge. Als Maxims Vater es von seinem Vater geerbt hatte, hat es nicht mehr funktioniert. Roland Denker hat einen Spezialisten ausfindig gemacht und das Auge reparieren lassen.

Mit diesem Radio hatte Maxims Großvater während des zweiten Weltkrieges US-amerikanische Radiosender gehört. Feindsender. Das hätte ihn damals das Leben kosten können.

Irgendetwas treibt Maxim zu dem Radio.

Die große Antenne nimmt den meisten Platz auf der Fensterbank ein. Ohne sie würde das Radio heute nichts mehr empfangen. Andere elektrische Geräte stören die antiken Kondensatoren.

Aber es funktioniert bis heute. Roland Denker war das zu Lebzeiten ein wichtiges Anliegen gewesen.

Maxim steckt das Radio ein und dreht es an. Das magische Auge erweckt zum Leben. Hinter der Glaslinse brennt grünes elektrisches Feuer.

Nichts als Rauschen.

In der Hoffnung den Empfang verbessern zu können, steckt Maxim alle elektrischen Geräte in der Nähe aus. Den Fernseher, die Station des Telefons, die Stehlampe. Das Morgenlicht und das magische Auge spenden genügend Licht zum Sehen. Er dreht an den Reglern, sucht nach Stimmen im Äther und findet eine Radiostation, die seichten Jazz spielt.

Saxophon, Klavier, Schlagzeug. Ein sanfter Rhythmus.

Maxim lächelt. Sein Vater hatte gerne Jazz gehört. Musik, die ohne Harmonie nicht existieren kann.

Ein Akkordeon mischt das Trio auf.

Bilder seines Vaters übermannen Maxim. Er hat gedacht, er hätte für den heutigen Tag schon genügend Tränen vergossen. Aber da hat er sich getäuscht. Die Tränen befreien ihn von den Kopfschmerzen, den Schuldgefühlen, der Trauer.

In diesem Moment ist Maxim seinem Vater ganz nah. Er kann es spüren.

Mit einem freien Geist schläft Maxim ein. Er schnarcht. Verspannungen in seinem Kopf lösen sich.

Bildquelle: (c) DA

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