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Dem tragischen Tier auf der Spur: Eine Annäherung an Chrétien Hugo Dubois

Von Carsten Hein.

„Politik ist, wenn der Pöbel versucht zu philosophieren!“1.

Diese Worte sind untrennbar mit dem Namen von Chrétien Dubois verbunden. Auch die grausigen Details seines Ablebens unter dem Schafott fanden ihren festen Platz in den Annalen des Grande terreur. In welchem Zusammenhang diese Phrase zum ersten Mal fiel, wer sie hof- und zitierfähig machte, darüber schweigen die Quellen. Erstaunlich, vielleicht auch gewollt: Denn wie selbstverständlich haben sich Diktatoren wie Anarchisten in den zurückliegenden Jahrhunderten immer wieder auf Dubois berufen, freilich ohne nähere Kenntnis seiner Texte.

Trotz der wenigen gesicherten Fakten in seinem Leben scheint dieses Zitat keineswegs einem launischen Zeitgeist gemünzt zu sein. Im Gegenteil: Der Satz bildet die Quintessenz, das Lebensresümee eines Gescheiterten, der sich bewusst war, seinem Ende nicht mehr entrinnen zu können. Das Verhältnis zur Macht ist einer der Dreh- und Angelpunkte des schmalen Werkes, das Dubois hinterlassen hat, seine Auseinandersetzung mit Mythen der andere. Vieles in den hinterlassenen Schriften wirkt vage, bleibt skizzenhaft. Logische Brüche und inhaltliche Widersprüche ziehen sich durch seine weit verstreuten Schriften.

Die biografischen Fakten lassen sich rasch zusammentragen: Chrétien Hugo Dubois wird als Sohn eines Uhrmachers entweder 1757 oder 1758 in der Normandie geboren2. Die Verwüstungen der Stadt Le Havre durch den Beschuss der englischen Marine im Siebenjährigen Krieg und der anschließende Wiederaufbau der Stadt mögen einen prägenden Eindruck auf den heranwachsenden Knaben hinterlassen haben. Der Vater, dessen Vorfahren aus den Spanischen Niederlanden stammen3, schickt seinen Sohn auf die örtliche Lateinschule und später an die Sorbonne. Danach verliert sich die Spur.4 Erst in den späten siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts lassen sich erste Veröffentlichungen Dubois’ nachweisen.

Ungewöhnlich scharf fallen die Kommentare zu seinem Werk „Le mythe de Prométhe“ aus: Kritiker bemängeln, dass der Verfasser Prometheus und Christus in engen Zusammenhang rückt, biblisches mit heidnischem Gedankengut in Verbindung setzt und Gemeinsamkeiten der mythologischen Figuren als Aufstieg, Niedergang und Wiedergeburt gleicher Ideen interpretiert5. Die heftige Reaktion des Klerus entzündet sich wohl auch daran, dass Dubois die Überlieferungen der Bibel als apokryph ansieht und den Kirchenvätern implizit Plagiieren unterstellt.

Prometheus wird von den Göttern bestraft, weil er den Menschen das Licht der Erkenntnis bringt – Christus wird von den Menschen bestraft, weil er ihnen das Wort Gottes bringt. Bei Dubois gibt es keine Konkurrenz verschiedener Mythologien, nur ihre mal bewusste, mal unbewusste Fortschreibung. Genug für die katholische Kirche: So landet „Le mythe de Prométhe“ auf dem „Index Librorum Prohibitorum“, dem Verzeichnis verbotener Schriften6.

Auch aus den Reihen der Wissenschaft werden Vorwürfe vernehmbar: Dubois missachte die Grenzen der Disziplinen. Die Fakultäten erkennen in „Le mythe de Prométhe“ unverhältnismäßige wie unzulässige Kombinationen aus historischen, theologischen, ästhetischen wie naturwissenschaftlichen Versatzstücken – umso bemerkenswerter, da sich in dieser Epoche verschiedene Disziplinen im modernen Sinne erst entwickeln.

Was auch immer von den Einwänden zu halten sein mag: Dubois hatte bewiesen, dass er durchaus in der Lage war, mit seinen Thesen den Nerv der Zeit zu treffen.

Im Geistesleben der Spätaufklärung bleibt er ein Außenseiter. Der akademische Diskurs findet ohne ihn statt. Lediglich die sich entwickelnden Organe des Staatsschutzes scheinen sich eine Weile für ihn zu interessieren7.

Dessen ungeachtet drucken immer mehr Zeitschriften Auszüge seiner Schriften. Dubois lebt zu dieser Zeit in der Camargue, bestreitet seinen Lebensunterhalt als Aushilfslehrer, als Übersetzer – und durch karge Honorare. Eine Reise nach Paris wird schließlich die entscheidenden Weichen stellen. Jacques-René Hébert, der wenig später die erste Ausgabe von „La père Duchesne“ herausgeben sollte, findet in dem jungen Provinzler einen eifrigen Mitstreiter. Dubois zählt schnell zum festen Autorenkreis des Magazins, das rasch an Einfluss gewinnt.

Mehr noch: Unter der Ägide der Hébertisten blüht Dubois auf. In kurzer Folge erscheinen – auch in anderen Publikationen – Artikel, Betrachtungen, Rezensionen und Essays. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, Mythen nicht als isolierte Überlieferungen zu betrachten, zieht sich wie ein Grundmotiv durch seine Schriften. Texte der Bibel, vor allem aus dem Pentateuch und den Evangelien, erfahren zum Teil radikale Neudeutungen. Dubois schält Hülle um Hülle der Überlieferungen ab und legt den Kern der Mythen frei, treibt sie auf die Spitze: „Während Paris die Wahl hatte, zwischen drei Grazien zu wählen, drückte Eva den Apfel Adam in die Hand“8. Für Dubois sind alle Texte in erster Linie eines: Belletristik! Literatur, die Vorstellungen und Machtverhältnisse der jeweiligen Zeit, in der sie entsteht, widerspiegelt – ein ständiges Mäandern der Inhalte, Strukturen und Formen, das sich aus einem schier unendlichen Fundus speist9.

In Prometheus – wie auch in Christus – sieht Dubois die Idee des Gegenspielers, des Widersachers angelegt: als Lichtbringer, als Luzifer. Ob gegen göttliches Gebot oder menschliche Willkür, beide Figuren werden zu „Vorbildern“ der Revolution, des Kampfes gegen die bestehende Ordnung. Wohl nicht ohne Selbstironie wird „die Leber zum charismatischen Organ der Erkenntnis“, die physische Existenz zum „Resonanzkörper der Welterfahrung“.

Auffallend in dieser Phase seines Schaffens ist, dass sich das Denken Dubois’ immer weiter in Richtung einer materialistischen Betrachtungsweise entwickelt. Der Mensch – umschlossen von Natur, Mythos, Historie, Wissenschaft – erscheint ihm als „tragisches Tier“. Die Beiträge Dubois’ zeugen von einer tiefen Skepsis in die conditio humana.

Das Bewusstsein verlangt nach Sinn. Die Beschränktheit der Erkenntnisfähigkeit steht dem entgegen. Was bleibt, ist Sehnsucht, die ungestillt bleiben muss. Der fragende Mensch bleibt trotz der zahlreichen Götter, die er sich „zum Trost nach seinem Abbild schuf“ im Kosmos allein. Der Geist der Aufklärung kann den Menschen nicht erhellen, nicht erlösen: „…doch bleibt er unfähig, sich mit seiner Vergänglichkeit abfinden“10, konstatiert Dubois. Und weiter: Dem „tragischen Tier“ obliege die Bürde, den aufrechten Gang zu erlernen, den Aberglauben und „die Angst vor dem Nichts“ zu überwinden.

So wenig auch von den näheren Lebensumständen überliefert ist, scheint sich auch nach außen hin ein Wandel in seinem Leben zu vollziehen. Mittlerweile zählt Dubois zum festen Kern der Hébertisten. In diese Phase fällt seine Begegnung mit Anarcharsis Cloots11, die tief greifende Wirkung auf sein Handeln haben sollte. Dubois schließt sich den Zügen der Antiklerikalen an. Gemeinsam plündern und schänden sie Kirchen. Zeitgenössische Stiche zeigen Figuren, die Reliquien, Bibeln, Monstranzen und anderes Kircheninventar wie bei einem Karnevalsumzug durch die Straßen tragen. Das christliche Abendland ist geschockt: Die Staaten Europas und die katholische Kirche laufen gegen die Frevler Sturm. Innerhalb Frankreichs gerät das Machtgefüge durcheinander, die Parteien radikalisieren sich. Als Charlotte Corday unter Vorwand Jean Paul Marat in dessen Wohnung aufsucht und ihn in seiner Badewanne ersticht, hat die Revolution ihren großen Märtyrer12.

„Der Tod des Marat“ von Jacques-Louis David wird rasch wie eine Ikone verehrt. Dubois muss das Gemälde des Historienmalers wie ein Beleg seiner Thesen vorgekommen sein. Profanes und Heroisches verschmelzen untrennbar. Doch geht ihm die Apotheose des ermordeten Publizisten entschieden zu weit. Nicht nur das: Davids Rückgriff auf pièta-Motive hält Dubois für eine Verhöhnung der Revolution.

Sein Ton wird schärfer, wie der Kommentar über den Auszug Mose aus Ägypten, eher eine Glosse, unterstreicht: Die Zerschlagung der Gesetzestafeln, die Zerstörung des Goldenen Kalbs und die befohlene Auslöschung seiner Anbeter markieren für Dubois den „Gedanken, der nach Unerbittlichkeit verlangt“. Der Zorn Gottes und der Zorn des Mannes, der sein Volk durch die Wüste führt, vermischen sich, werden eins: Wer ist Schöpfer, wer Geschöpf? Unerbittlichkeit ist die Folge der Gewissheit, dem Einzigen, dem Absoluten, zu dienen. „Non serviam“, schreibt Dubois. Es sind die Schlussworte des Appells, der Verweigerung fordert, um dem Räderwerk der Vernichtung zu entrinnen.

Hier klaffen Theorie und Biografie besonders weit auseinander. Hatte Dubois 1791 noch schwere Bedenken geäußert, den König unter dem Fallbeil sterben zu lassen, erschien es ihm jetzt als unabdingbar, das Alte zu zerstören, rücksichtsloses Vorgehen inbegriffen; auch wenn grundsätzliche Zweifel bleiben. Es geht über das Werk hinaus: Dubois scheint sich seiner Zerrissenheit vor dem Hintergrund des steigenden Blutzolls der Revolution bewusst gewesen zu sein.

Das „Fest der Vernunft“ am 10. November 1793 in Notre Dame wird zum Höhe- und Wendepunkt in seinem Leben: Gemeinsam mit Cloots und Chaumette organisiert er die Feier. Nur kurz steht Dubois, die Nebenfigur im Historiengemälde, selbst im Zentrum des Geschehens. Vom Gipfel seiner öffentlichen Anerkennung bis zum Niedergang bleiben nur wenige Monate.

Dubois zählt zu den vehementesten Verfechtern der „Dekaden“, die am 24. November 1793 in Kraft treten. Die dezimale Zeiteinteilung löst die Sieben-Tage-Woche ab. Er begrüßt es, dass ein „Relikt aus einer Zeit, in der erschöpfte Wüstennomaden Götter nach ihrem Ebenbild schufen“, abgeschafft wird13. Die Formulierung ruft Widerspruch hervor. Dubois gilt fortan als verdächtig.

Robespierre erkennt die Gefahr für die junge Republik. Zusammen mit anderen Hébertisten hat sich Dubois vor dem Revolutionstribunal zu verantworten. Bereits zu Beginn des Schauprozesses steht das Urteil fest: Dekaption. Am Place de Grève geht Dubois am 24. März 1794 in die Knie. Als der Scharfrichter den Kopf der Menge präsentiert, soll ein Raunen über den Platz gegangen sein: Die Augen Dubois’ rollten in ihren Höhlen. Einige behaupteten später, er hätte versucht zu sprechen, doch stattdessen habe sein Speichel nur den Henker getroffen, der vor Schreck den Kopf auf den Boden poltern ließ14.


1 Das französische Original des Zitats ist verschollen. Lediglich eine deutsche Übertragung liegt vor. Nicht zu klären ist, ob der unbekannte Herausgeber „pueple/pueble“ oder das wesentlich ältere „poble“ mit „Pöbel“ übersetzt hat.

2 Im Kirchenregister von Le Havre sind zwei Einträge verzeichnet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der erstgeborene Täufling starb, der zweitgeborene Sohn den Namen übernahm.

3 Urkundliche Erwähnung findet die Familie erstmalig während des Achtzigjährigen Kriegs. 1574 kauft ein Uhrmacher namens Den Bosch, ein Emigrant aus Leiden, ein Haus in der Nähe des Hafenviertels. In späteren Einträgen findet sich der Name Dubois.

4 In den Dokumenten der Hochschule finden sich keinerlei Belege über ein abgelegtes Examen.

5 Auch wenn Dubois’ Werk als Original unwiederbringlich verloren sein sollte, so scheinen seine Reflexionen noch von der Ideenlehre Platons bestimmt zu sein.

6 Bei Bücherverbrennungen in Spanien, Italien und Deutschland sollen auch Exemplare von Dubois‘ Abhandlung in den Flammen aufgegangen sein. Erst nach dem 2. Vatikanischen Konzil, 1965, fällt das Werk aus dem Index.

7 Aus den Quellen ist ersichtlich, dass sich Dubois in den 1770er Jahren in oder in der Nähe von Grenoble aufgehalten haben muss.

8 Auch Olympe de Gouges, die bedeutendste feministische Publizistin ihrer Zeit, berief sich auf Dubois.

9 In intuitiver Weise scheint Dubois das poststrukturalistische Konzept der Intertextualität vorwegzunehmen.

10 Auch wenn Dubois die Kategorie des Göttlichen nicht kategorisch ausschließt, sind die Wirkungen auf den Existentialismus kaum zu übersehen.

11 Anarchasis Cloots (1758-1794): niederländisch-preußischer Revolutionär und Religionskritiker.

12 Michel Le Peletier gilt als erster Märtyrer der Revolution.

13 Kritiker äußerten früh die Befürchtung, dass das Volk aufbegehren würde, wenn Feiertage entfielen.

14 Der Tod tritt innerhalb von Sekundenbruchteilen ein, somit ist die willentliche Beeinflussung der Mimik ausgeschlossen. Die Forschung an abgetrennten Köpfen wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingestellt.

Bildquelle: (c) YouTube

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