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Beschreibung

Von Michel op den Platz.

SIE MACHT DICH SELTEN REICH
UND WENN DANN ERST ALS LEICH
DARUM
NIE WIEDER KUNST,
singt die EAV im Museumsshopradio.

(Oh, eine blaue äh Statue. Eine Skulptur ist das eher. Das kann man ja unterscheiden, wir gehen ja oft ins Museum. Ich mag das nicht, wenn man äh ausgeht und kann mit niemandem reden über Kunst oder über äh Kultur. Ein bisschen Bildung schadet keinem. Was meinst du? Was er sich hier wohl dabei gedacht hat, der äh, äh der die Skulptur gemacht hat? Aber Karlheinz, guck mal, jetzt sagt die Expertin was dazu.)

Paco war so einer, der zwischen zwanzig und vierzig alles sein kann. Was sind Jahre? En großer Steinbrocken fliegt immer wieder um nen noch größeren Feuerball, und da iser nich mal der einzige. Alberner Brocken. Paco, so wie er sich bewegte, der drahtige Kerl mit dem blauschwarzen Haar, kam jedenfalls aus ner ganz andern Ecke. Er hat mit mir getanzt und getrunken und seine Geschichte erzählt und meine. Aber ich hab das alles sofort wieder vergessen. Schon als ich raus bin, um auf die Baustelle zu pissen, wusst ich nix mehr.

(Aha.)

Dann passiert zwischen Pissen und heute eigentlich gar nich so viel. Der alberne Brocken hetzt en paar Mal um seine Feuerstelle, und plötzlich hat man Haarausfall und steht in so nem white cube vor diesem schwarzblauen Ding. Das ist ein riesiges Loch und das ist ein riesiger Ball, egal von wo aus mans anguckt. Das hat mit 3D nix mehr zu tun. Da kann man die sehn, die ganzen Dimensionen, die so ne Stringtheorie braucht. Ein Ball, ein Brocken, Einstein – ich weiß nicht, wies Ihnen damit geht, aber ich brauch keine Weltformel mehr, wenn ich diesem Schwarzblau hier so gegenübersteh. Dagegen kackt die BILDBESCHREIBUNG vom Müllersheiner total ab. Gebense mir Kuli und Bierdeckel, und ich mal Ihnen das Bild vom Heiner schneller, als en Neoliberaler da seine Steuererklärung drauf kriegt.

(Müssen wir unsere eigentlich noch machen, Karlheinz?)

Ich hab Paco nie wieder gesehn, bis ich hier zum ersten Mal reinkam. Das Blauschwarz, wissense, das wars. Das ist seins. Das gibts nur einmal, und das war schon immer auf seinem Kopf. Und wenn ich dann hier so rumgehe, um dieses geballte Loch rum, um diese Leerstelle, dann fallen mir die Geschichten von ihm wieder ein. Alle, die er erzählt hat. Ich weiß dann, wie der Abend ausging, und ich weiß, dass ich eigentlich noch mal reingegangen bin nach der Baustelle. Dass der alberne Brocken plötzlich schlingerte, ne Sekunde nur. Trotz all den Milliarden perfekter Bahnen davor und danach: Daher kommt dieser letzte Moment, dieser eine Augenblick, der einem immer fehlt, jeden Tag.

(Bitte entschuldigen Sie, aber äh hatte die Farbe Blau denn irgendeine Bedeutung für den Künstler?)

Sicherlich. Wahrscheinlich. Nee, also pfff keine Ahnung. Is nicht alles blau, was er gemacht hat. Darum gehts ja jetz auch gar nich, es geht um Paco. Ein bisschen um mich. Eigentlich um das hier…

(Karlheinz, jetzt streichelt sie das Ding, als ob… Darf die das überhaupt anfassen? Entschuldigen Sie, Frollein, dieser Herr Paco, äh der ist der Künstler? Oder wie… Frollein?)

Paco hat seinen Kopf in meinen Schoß gelegt und ich die Finger in sein Haar. Weich wie das Fell von so nem mopsigen Tier, klingt nich schön, aber war so. Er wusste viel übers Werden. Was das bedeutet, zu werden. Und Wein hat er getrunken und ich auch. Aber immer nur zu werden, hat Paco gesagt, das hat ihm nicht gereicht. Der wollte mehr. Oder was andres.

(Sagen Sie… sind Sie ernsthaft… die Expertin hier?)

Es ist was Besonderes, hat er gesagt, sich selbst plötzlich in verschiedenen Zeiten stehen zu sehen. Sich selbst? Was man erkennt, jedenfalls, und was Spuren trägt von so was wie nem Ich. Spuren, die all diese Selbstwesen über die Zeiten verbinden, immer wieder dieselben, speziellen, spezifischen Komponenten, Kompositionen, Konstellationen in lauter Krach und Chaos und Wandel.

In Momenten, die verschieden sind, in freien oder in geschlossenen Räumen, mal umgeben von andern Wesen, mal alleine mit sich selbst. Man kniet da oder steht müde oder liegt heulend unter der Dusche, ärgert sich vielleicht, hasst den, dem man sich grade anbiedert, weil mans muss. Punkte im Strom, und eigentlich verbindet sie nichts als das Fließen, das Fortgerissenwerden. Immer nur eine, immer dieselbe Richtung.

(Jetzt hören Sie mal her, Frollein. Ich hab hier dafür bezahlt, dass Sie mir was über Kunst erzählen. Karlheinz, die ist doch betrunken. Ist das so schwer, klare Ansagen zu machen? Was will der Künstler uns sagen mit diesem Ding? Und was bedeutet das für sein äh Gesamtwerk? Das steht doch alles im Kontext, Luft passiert doch nicht im kunstleeren äh Raum. Das muss man doch alles logisch erklären können, mein ich, Frollein. Warum ist das hier jetzt Kunst? Das will ich wissen. Weil, ich seh das nicht. So was da, der blaue äh Bobbel, das bastelt meine Nichte im Kindergarten auch, nur kleiner halt.)

Doch dann plötzlich: nur ein Wort, ein Grashalm, ein Gedanke, eine Tasse Kaffee, eine Revolution – und sie strahlen auf. All diese Wesen, mit einem Mal wieder wie eins, und durch diese Vereinigung werden sie anders. Alle. In den eigenen Augen, in den Mündern der andern. Was war, ist plötzlich nicht mehr so, das Vergangene neu gefasst, die eigene Geschichte überschrieben mit Neonbuchstaben. In allen Zeiten hängt dann mehr am Ich, oder immerhin ist was wie nie. Der Strom wird ein Strudel, und alles kann plötzlich sein, nicht nur überall sondern immer und gleichzeitig.

Plötzlich nur noch ein einziges Ich, in so vielen verschiedenen Momenten: hier und jetzt und früher und in allem, was sein könnte, verteilt zusammen, gemeinsam bloß eins. Das hat er gesagt, und er wollte bloß eins, Paco: ein Werden sein.

(Frollein, jetzt nehmen Sie mal Ihre Hand da weg. So wie Sie reden von diesem äh Herrn, da ist doch klar, dass Sie beide… Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass äh, dass Paco…)

Die meisten Menschen sieht man nur einmal, während man den großen Steinbrocken um den Feuerball reitet, bevor sie einem überhaupt irgendwas werden können. Aber ich hab Glück gehabt. Ich hab Paco wiedergefunden. Hier steht er vor mir, jeden Tag als ein sehr echtes, unfertiges und blauschwarzes Nichts. Das ist keine Heinermüllergeschichte, kein Symbol, kein Vergleich und keine Metapher. Paco hats geschafft.

(Karlheinz, ich weiß gar nicht… Äh Frollein, kann man Ihnen… Sagen Sie doch bitte, ist die Skulptur von ihm? Hat Paco die gemacht?)

Nein. Wie kommense denn da drauf? Was Sie hier sehen, meine Damen und Herren, ist die konkave Seite einer Skulptur aus blau pigmentierten Glasfasern des indisch stämmigen britischen Künstlers Anish Kapoor. Die Skulptur trägt den Titel MOTHER AS A VOID und wurde zwischen den Jahren 1989 und 1990 angefertigt. MOTHER AS A VOID ist Teil einer Reihe von Skulpturen, in der sich der Künstler mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum auseinandersetzt.

Spieglein, Spieglein an der Wand, ich hab im Sinn die Kunst erkannt.

(Karlheinz, jetzt sag doch bitte auch mal was.)

Haben Sie noch Fragen? Gut. Dann gehen wir weiter.

Bildquelle: (c) DA

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