Novelle

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DIE TÜR

Von Andrea Lydia Stenzel.

Ich kam herein, weil ich nach der Luftmatratze suchte. Alles, was wir nicht brauchten, stopften wir in das fensterlose Vierquadratmeterzimmer, das im hinteren Teil unseres Hauses lag und sich als Wohnraum nicht nutzen ließ. Der Anblick, der sich mir bot, schien vertraut. Doch dann entdeckte ich die Tür. Eine schmale, hohe Tür, direkt gegenüber von der, durch die ich gerade gekommen war. Mit zwei Querbalken, grün gestrichen, wie man sie bisweilen in alten Kellern findet.

Da war doch niemals eine Tür, sagte ich zu Thomas, als wir später gemeinsam unseren Tee tranken. Oder hast du jemals eine bemerkt?

Thomas zuckte die Achseln.

Kann sein, dass sie vom Gerümpel verdeckt war, sagte er. Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt.

Hinter dem Haus hatte mal ein Garten gelegen, der aber schon vor Jahrzehnten verschwunden war, als man in der Gegend neue Häuser gebaut hatte. Vielleicht war man früher durch die Tür in den Garten gelangt. Ich wollte ausprobieren, ob sie sich noch öffnen ließ, aber der Weg dorthin war von Kisten und Kästen versperrt.

Die Sache ließ mir keine Ruhe. Als ich am anderen Morgen den Motor von Thomas´ Wagen anspringen hörte, stand ich von meinem Schreibtisch auf und rannte ins hintere Zimmer. Ich rannte, weil ich fürchtete, die Tür würde genauso schnell wieder verschwinden, wie sie erschienen war. Aber sie war da. Vielleicht hatte Thomas Recht, und sie war schon immer dagewesen. Ich machte mich sofort an die Arbeit, trug Kiste für Kiste in mein Zimmer, bis es aussah, als wollte ich umziehen. Als die Kirchenglocken zwölf Uhr schlugen, hatte ich gerade mal die Hälfte weggeschafft. Ich schwitzte, die Arme taten mir weh vom Schleppen, aber ich machte unermüdlich weiter. Kurz nach halb drei stand ich vor der Tür. Ehe ich die Klinke herunterdrückte, kamen mir Zweifel. Was erwartete ich eigentlich? Falls sie nicht verschlossen war, führte sie, wie ich genau wusste, lediglich hinter das Haus, wo sich ein paar Büsche befanden, hinter denen der Zaun entlanglief. Dann begann das nächste Grundstück, auf dem ein Mehrfamilienhaus aus den sechziger Jahren stand, durch einen blassorangen Anstrich geschmacklos aufgefrischt. Ich ließ die Klinke los und wollte gerade ernüchtert umkehren, als ich jemanden lachen hörte. Vermutlich die Kinder aus dem Mehrfamilienhaus, dachte ich, obwohl das Lachen so nah klang, dass ich meinte, jemand müsse direkt hinter der Tür stehen. Natürlich ist es schon vorgekommen, dass die Nachbarskinder Ball gespielt haben und der Ball in unsere Büsche gefallen ist. Dann sind sie über den Zaun geklettert und haben ihn geholt, obwohl sie eigentlich vorher hätten fragen müssen. Aber welches Kind macht das schon? Das Lachen erinnerte mich an etwas, an meine eigene Kindheit vielleicht, an die ich sonst selten dachte, an die zu denken mich auf einmal mit Wehmut erfüllte. Ich werde alt, sagte ich mir, ich werde langsam alt. Vermutlich war es dieses Gefühl, was mich dazu bewog, die Klinke zu drücken und die Tür weit aufzustoßen. Auf den Anblick, der sich mir nun bot, war ich auf keine Weise vorbereitet. Hinter dem Haus befanden sich keineswegs die traurigen Weißdornbüsche, um die sich keiner kümmerte, auch kein Zaun und schon mal gar kein Mehrfamilienhaus. Das alles war verschwunden. Stattdessen blickte ich in einen großen, blühenden Garten, in dem Kinder spielten. Als sie mich sahen, winkten sie. Sie riefen etwas, was ich nicht verstand. Eine Weile war ich starr vor Staunen, ich dachte, hier muss doch eigentlich ein Haus stehen, hier muss ein Zaun sein, ein paar Büsche, ich begriff nicht, wieso das alles auf einmal nicht mehr da war, aber die Erstarrung wich bald und machte einem anderen Gefühl Platz. Einer freudigen Erwartung. Ich wollte wissen, was für ein Ort das war, an dem Kinder im grünen Gras saßen, mir winkten und mich riefen, und so zögerte ich nicht lange, sondern trat aus der Tür hinaus und mitten in den Garten hinein.

Viel später, als die Tür längst wieder verschlossen war, habe ich versucht, meinem Mann zu erklären, was es war, was mich immer wieder in den Garten und zu den Kindern zog, die mich wie selbstverständlich an der Hand fassten und um mich herumsprangen, als hätten sie mich erwartet. Sie kannten sogar meinen Namen, Anna, obwohl ich keines der Kinder je zuvor gesehen hatte. Kinder aus der Nachbarschaft waren es nicht, da war ich mir sicher. Trotzdem kamen sie mir vertraut vor, als hätte ich sie vor langer, langer Zeit einmal gekannt oder von ihnen geträumt. Wir spielten zusammen Ball, dann führten sie mich zu einem Tischchen, auf dem Speisen und Getränke bereit standen, Obst, Kuchen und Wein, und da ich Hunger und Durst hatte, nahm ich von allem. Im Lauf der nächsten Wochen erkundete ich heimlich jeden Tag einen anderen Teil des Gartens.

In dieser ersten Zeit konnte ich es gar nicht erwarten, dass Thomas aus dem Haus ging, damit ich die Tür öffnen und den geheimen Garten betreten konnte. Die Kinder warteten bereits, sie nahmen mich an der Hand, führten mich zum Pavillon, worin der Tisch mit den Speisen stand, oder zum See, wo weiße Schwäne uns auf ihren Rücken nahmen und übers Wasser trugen, oder zur großen Blumenwiese, wo wir Kränze wanden, um sie uns gegenseitig aufs Haar zu drücken. Damals lernte ich auch die Lieder, die ich später meinem Mann vorgesungen habe, ich, die ich niemals zuvor in meinem Leben gesungen hatte. Spätestens da hätte Thomas stutzig werden müssen, aber er sagte nur, ich wusste gar nicht, dass du so gut singen kannst, du solltest dich in einem Chor bewerben. Als er das sagte, war alles längst vorüber, und in einem Chor zu singen, war das letzte, was ich mir wünschte. Ich hatte etwas verloren, was mir teuer gewesen war, und brauchte Trost. Vielleicht erzählte ich ihm deshalb die ganze Sache. Natürlich behauptete er, ich hätte nur geträumt. Dann ging er zur Tür im hinteren Zimmer. Sie ließ sich nicht öffnen.

Na, bitte, sagte er.

Schließlich spazierte er mit mir ums Haus herum, deutete auf Büsche, Zaun und Mehrfamilienhaus.

Wo soll er denn nun sein, dein geheimer Garten, fragte er lachend.

Ich schwieg. Ich wusste ja längst, dass da kein Garten mehr war, ich selber war es gewesen, die dafür gesorgt hatte, ich, die große Spielverderberin. So eine Tür öffnet sich nur einmal im Leben für einen. Jetzt war sie zu.

Seit die Tür wieder verschlossen war, saß ich Tag für Tag weinend in der Ecke, bis Thomas sagte, so gehe das nicht weiter, wir sollten zu einem Therapeuten gehen. In den folgenden Monaten erzählte ich nun einer Therapeutin, wie ich im hinteren Zimmer die Tür entdeckt, wie ich den Weg dorthin freigeräumt, wie ich den Garten mit den Kindern dahinter gefunden und wieder verloren hatte.

Fühlen Sie sich schuldig, fragte die Therapeutin.

Ich schüttelte den Kopf.

Es ist keine Frage des Gefühls, sagte ich. Ich bin schuldig. Ich hätte sie nicht verleugnen dürfen.

Kein Therapeut der Welt würde mir einreden können, meine Schuld sei nur eine Einbildung. Ich weiß, was ich getan habe. Ich werde den Abend, als es passierte, nie vergessen. Wir hatten Besuch gehabt, Ingrid und Bernd, ein älteres Ehepaar, das früher einmal in der Gegend gewohnt hatte. Es dauerte nicht lange, da erwähnten sie die Gärten, die zu ihrer Zeit hinter den Häusern gelegen hatten, richtige Parkanlagen, schwärmten sie, hinter eurem Haus lag ein besonders schöner mit einem Pavillon und einem See, auf dem weiße Schwäne schwammen.

Ich verschluckte mich an meinem Wein, hustete eine Weile, dann fragte ich, ob der Pavillon in der Mitte des Gartens stehe, ob der See wie eine Acht geformt sei, ob es hinter dem See eine große Wiese gebe, und als sie erstaunt fragten, woher ich das alles wüsste, murmelte ich, ich hätte es mir so vorgestellt. Thomas sagte, es sei die Tür, ich sei geradezu besessen von der Tür zum ehemaligen Garten, ich hätte mir schon alles Mögliche dahinter ausgemalt. An eine Tür könne er sich gar nicht erinnern, sagte Bernd, obwohl er früher öfter in diesem Haus gewesen sei, sein bester Freund habe ja hier gewohnt, sie seien aber immer ums Haus herumgegangen, wenn sie in den Garten wollten. Er denke noch oft an diesen Garten, fuhr er fort, er träume sogar bisweilen von ihm und von seinem Freund, der ihn an der Hand fasse und zum Pavillon führe, wo Obst, Kuchen und Wein bereit stünden. Zuerst habe er geglaubt, es sei der Tod, der ihn rufe, sein Freund sei ja schon lange verstorben, aber jetzt denke er, es sei alles Schöne, was ihm im Lauf des Lebens abhandengekommen sei. Es klopfe noch einmal bei ihm an.

Behutsam legte er mir die Hand auf den Arm. Vielleicht klopft auch bei dir was an, sagte er.

War es Feigheit? Angst? Oder einfach nur das Gefühl, sich keine Blöße geben zu wollen, was mich bewog, meinen Garten und seine Bewohner zu verleugnen? Ich weiß es nicht.

Wer sollte anklopfen, sagte ich böse lachend. Hinter der Tür gibt es nichts, nur Büsche, einen Zaun und ein hässliches Mehrfamilienhaus aus den Sechzigern.

Ingrid und Bernd machten sich bald auf den Heimweg. Mitten in der Nacht wachte ich schweißgebadet auf, und obwohl ich weder angezogen noch gewaschen war, rannte ich sofort zum hinteren Zimmer, bahnte mir einen Weg durch die Kisten und Kästen, die Thomas heimlich wieder zurückgestellt hatte. Ich drückte die Klinke, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Im ersten Moment dachte ich, sie klemme. Dann begriff ich, dass sie abgeschlossen war. Ich rief nach den Kindern, aber niemand antwortete. In meiner Verzweiflung hämmerte ich mit den Fäusten gegen das Holz, ich schrie, weinte, brüllte, doch nichts geschah. Als ich zuletzt ums Haus herumlief, waren da nur Büsche, ein Zaun, ein Mehrfamilienhaus. Keine Spur von einem geheimen Garten mit spielenden Kindern, mit einem Pavillon, in dem Obst, Kuchen und Wein bereit standen, einem See, auf dem Schwäne schwammen, und einer Wiese, auf der die schönsten Blumen wuchsen.

Stunden später fand Thomas mich im hinteren Zimmer sitzen, mit blutenden Knöcheln und tränenverschmiertem Gesicht. Er legte mir eine Wolldecke um, goss mir einen Cognac ein und wollte wissen, was los sei. Da erzählte ich ihm alles. Ich hatte keine Angst mehr, mein Geheimnis preiszugeben, ich wusste, dass es nichts mehr preiszugeben gab. Es war vorbei. Es war meine eigene Schuld, ich hatte zu Bernd gesagt, da sei nichts, und jetzt war nichts mehr da.

Nach einem Jahr endeten die Stunden bei der Therapeutin. Ich hatte aufgehört, von dem Garten zu sprechen, es fiel mir immer schwerer, mir alles ins Gedächtnis zurückzurufen. Nur an die Lieder konnte ich mich noch genau erinnern. An ihnen hielt ich mich mit beiden Händen fest wie an einem Geländer. Hin und wieder summte ich eines, während Thomas Kreuzworträtsel löste.

Du solltest wirklich im Chor singen, sagte er lächelnd.

Vielleicht hätte ich auch die Lieder irgendwann vergessen und alles wäre wieder so geworden wie früher, wenn sich nicht mein Neffe zu Besuch angekündigt und ich von neuem die Luftmatratze aus dem hinteren Zimmer benötigt hätte. Es dauerte eine Weile, bis ich sie zwischen dem Gerümpel entdeckte. Als ich den Kopf hob, um einen Blick auf die Tür zu werfen, wie ich es immer tat, sooft ich hereinkam, war sie verschwunden. Spurlos verschwunden. Selbst wenn sie sich nicht mehr hatte öffnen lassen, war sie mir ein Trost gewesen, weil sie mich daran erinnert hatte, was dahinter gewesen war.

Jetzt hatte ich nur noch die Lieder.

Die Tür ist weg, sagte ich aufgeregt zu Thomas, als er am späten Nachmittag nach Hause kam.

Welche Tür, fragte er.

Die Tür, die in den Garten führt, sagte ich.

Thomas schenkte sich in aller Ruhe ein großes Glas Cognac ein, bevor er antwortete.

Eine Tür kann nicht einfach so verschwinden, Anna, sagte er lächelnd.

Eben, sagte ich.

Bildquelle: (c) DA

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