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Die Überraschung

Von Udo Dickenberger.

Es war ein übler Spaß, der mir bereitet wurde. Als ich eines Abends in schlechter seelischer Verfassung, müde und zerschlagen heimkehrte, stellte ich verwundert fest, dass in mehreren Räumen des nicht allzu großen Hauses, das ich seit Jahrzehnten benutzt hatte, seit dem frühen Morgen einige Dutzend mir ganz unbekannte pflegebedürftige Menschen untergebracht worden waren.

Ich suchte über längere Zeit hin nach Ruhe, ich lief aufgeregt durch meine Wohnung. Es war ein schlechter Streich, den sie für mich vorbereitet hatten. Ich betrat den Balkon, ich ging auf die Terrasse. Ich klopfte an den Schuppen. Überall, wohin ich auch kam, spürte ich Fremde auf. Ich wurde selber, obwohl ich versuchte, argumentierend und mit guten Vernunftgründen auf mich aufmerksam zu machen, nicht beachtet.

Ich wurde von allen Anwesenden, die sich den Anschein gaben, fortwährend stark und mit den allerwichtigsten Dingen beschäftigt zu sein, nicht im Geringsten wahrgenommen. Ich setzte mich, wie ich es von Jugend auf gewohnt war, auf das Schlafsofa, um über die verfahrene Situation nachzudenken. Ich wurde von einer übelgelaunten Helferin jedoch sofort aufgescheucht und weggejagt.

Keiner erläuterte mir all diese Vorgänge und Abläufe. Eine mürrische Betreuerin erklärte mir auf meine Anfrage hin beiläufig und gelangweilt mit, durch die zentrale Unterbringung von Moribunden an geeigneten Orten sei eine sehr viel bessere ärztliche Überwachung dieser Personen sichergestellt. Immer mehr und immer neue gesetzliche Auflagen müssten schließlich heutzutage berücksichtigt werden.

Deshalb seien manchmal ungewöhnliche Maßnahmen der zuständigen Behörden erforderlich, die vielleicht nicht jedem gefielen. Aber daran sei nichts zu ändern. Man erwarte Einsicht und ein erhöhtes Verständnis. Außerdem könnten durch die gemeinsame Unterbringung die Heizkosten gesenkt werden. Das war alles, was ich trotz wiederholter eindringlicher Anfragen in Erfahrung bringen konnte.

Ich war immer noch nicht dazu gekommen, mir ein bescheidenes Abendessen am vertrauten Herd zu bereiten. Es war vermutlich für mich für längere Zeit hin an keinerlei Ruhe mehr zu denken. Es war kein Frieden mehr da. In einem fort strichen Fremde, die überdies schlecht rochen, in den Gängen, die bis dahin mir gehört hatten und von mir all ein genutzt worden waren, auf und ab. Einige Besucher sprachen mich an.

Andere schlugen mir vertraulich auf die Schultern. Sie befragten mich gerade so, als ob wir uns seit langem kennen würden. Ich wusste jedoch ganz genau, dass ich alle diese insgesamt sehr seltsamen und geradezu verdächtigen Menschen noch nie im ganzen Leben gesehen hatte. Ein sogenannter Physiotherapeut wollte wissen, wo sich irgendwelche mir völlig unbekannten Gymnastikbälle und Hanteln befänden.

Ein sich jovial gebender und sehr schmutziger Mechaniker schraubte im Treppenhaus an der alten Ritterrüstung herum. An der Hellebarde waren zerrissene Kleider zum Trocknen aufgehängt worden. Es bot sich alles in allem ein verstörendes und unwürdiges Bild der Zerstörung, der Verwahrlosung und der Verwüstung. Ein ausgedorrter und schläfriger Assistenzarzt wies mich auf den gravitätisch daher schreitenden korpulenten Chefarzt hi

Der hatte sich stark geschminkt war und trug ein Toupet. In seiner Jugend soll er ein berühmter und erfolgreicher Springreiter gewesen sein soll. Heute sei er den jungen Leuten schon lange nicht mehr bekannt. Keiner drehe sich auf der Straße mehr mit Blicken der Bewunderung, der Anbetung und der Verehrung nach ihm um. Ich musste gestehen, dass auch ich den schäbigen Kerl noch nie gesehen hatte.

Seinen wohl ostpreußischen Namen hatte ich noch nie gehört. Auch die Küche und das Badezimmer wurden von der Einrichtung benutzt. Ich fragte mich, wie ich unter diesen Bedingungen einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen und zur Ruhe gelangen sollte. Ich sann darüber nach, wie ich in diesen dürftigen Verhältnissen würde weiter existieren können. Ich überlegte, wie ich in diese Situation geraten war.

Ich konnte kein Verschulden und kein Fehlverhalten erkennen. Ich suchte verdrossen und müde die dreckige Holzkammer am Ende des Kellers auf, die offensichtlich von dieser eigenartigen und eigenwilligen Institution noch nicht entdeckt worden war. Dort legte ich mich hundemüde und völlig erschöpft nieder und beschloss abzuwarten, was der neue Tag bringen mochte. Ich zog mir unzufrieden, verärgert und mürrisch die staubigen Kartoffelsäcke über den Kopf.

Ich wunderte mich darüber, wie schnell man heutzutage in eine  völlig haltlose Situation geraten kann. Unübersichtlich und unüberschaubar ist dies alles, undurchsichtig und unüberlegt, überlegte ich. Jetzt erst, in der Bedrängung, wurde mir klar, wie schön es hier in der längst vergangenen Zeit der Selbstbestimmung gewesen war. Ich hatte ihren Wert nicht zu schätzen gewusst. Ungezählte Möglichkeiten hatten sich damals eröffnet.

Doch nur wenige hatte ich in meiner Trägheit, Faulheit und Nachgiebigkeit genutzt. Jetzt eröffneten sich freilich überhaupt keine Aussichten mehr. Freiheit, murmelte ich beim Einschlafen, Aufklärung, Licht. Die Lage war völlig unübersichtlich geworden. Da trampelten sie über mir hin und her, während ich einsam und ausgeliefert im Loch lag und hungerte. Es würde nicht lange dauern, bis sie mich hier aufspüren und auch von hier verjagen würden.

Das war sehr deutlich abzusehen. Dabei würden sie wahrscheinlich noch nicht einmal einen alten räudigen Hund in diesem Verschlag unterbringen wollen, diese Bestien. Wir träumen von der Freiheit und wir fordern Zuversicht und Hoffnung, aber keiner bringt sie uns. Wir hängen immerzu unseren alten vertrauten Vorstellungen nach, die nichts mehr zählen und die keinen Wert mehr haben. Es war warm im Keller.

Es regnete nicht hinein, es ging hier in einer gewissen Weise sogar gemütlich zu, und keiner tat mir einstweilen ein Leid an, doch man konnte vom Wechsel der Tageszeiten wenig bemerken. Ob die Tageszeitung geliefert wurde, bekam ich nicht mit. Der Gestank im Loch drang durch alle verdreckten Ritzen. Die schmutzigen Scheiben des kleinen vergitterten Fensters verschluckten das Licht. Das behäbige Surren der alten Heizungsanlage dämpfte alle Geräusche.

Ich beschloss, mich von Pellets zu ernähren. Dann versuchte ich, durch leises Bellen auf meine verzwickte und verstörende Lage aufmerksam zu machen. Es nutzte nichts, es half nichts. Man konnte sogar schmecken, aus welcher Baumart die Pellets hergestellt worden waren. Fröhlich hatte das Leben einmal begonnen, grauenhaft endete es jetzt. Welche Zeiten waren gekommen, und wann würden sie vorübergehen, überlegte ich.

Ich wälzte mich aufgeregt zwischen den staubigen Kartoffelsäcken im engen Kellerloch hin und her, aber es waren keine Aussichten zu erkennen. Oben verzehrten sie jetzt meine Nudeln und den Kohl. Nicht mehr lange, und sie würden den Reis und die Schinken aufgespürt haben. Ich aber lag hier wie ein Ungeziefer in der Ecke. Ich nagte an den staubigen Pellets, deren Nährwert höchst fragwürdig war.

Sie schmeckten ja überhaupt nicht. Sie machten nicht im Geringsten Appetit und luden nicht zum Weiteressen ein. Am vorletzten Abend hatte ich zum letzten Mal anständig gespeist. Wie heiter war noch bis vor wenigen Tagen alles zugegangen, wie überschaubar waren die Tagesabläufe gewesen. Jetzt lag ich hier im staubigen Winkel. Es fehlten Beilagen. Es fehlte nährendes Gemüse. Ich vermisste die Vorspeisen.

Das Essen war erbärmlich trocken und schmeckte nicht. Eine gute Sauce würde weitergeholfen, beruhigt und die triste Situation gemildert haben. Es war jetzt vollkommen still. Überraschend stellten sich vertraute Geräusche ein. Schwärme von Kranichen kehrten im Grunde viel zu früh trompetend in den Norden zurück. Ein klirrendes und schepperndes, zum Erbarmen aufrufendes Rasseln machte mir klar, dass wieder eine Eule falsch geflogen war.

Wie so oft in den vergangenen Jahren war wohl wieder eine schlecht orientierte und unkonzentrierte Eule gegen den Laternenmast am Weg zum Wald und zum Sportplatz gesaust. Wie töricht diese erbärmlichen Tiere doch sind, überlegte ich mir und kauerte in den Kartoffelsäcken zusammen. Sie lärmen, sie machen auf sich aufmerksam, diese unverständigen und im Grunde doch nur albernen und verjährten Tiere.

Sie bilden sich etwas darauf ein, dass es ihnen immer noch gelingt, den kleinen Kindern Angst einzujagen. Aber sie können sich selber nicht helfen und taugen nichts. Unterm Licht des Tages bestehen sie jedoch nicht. Am Rande des Grundstücks steht ja die alte, windschiefe Hütte, fiel mir ein. Daneben der Tümpel, der Teich. Das sind Aussichten, erkannte ich. Jetzt bestand plötzlich wieder Hoffnung. Zuversicht kam auf. Im Morgengrauen würde ich dorthin gehen.

Bildquelle: (c) DA

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