Novelle

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Dr. Merkwürdig und das gläserne Ich

Von Wolfdietrich Jost.

Das Max Planck Institut  für neuronale Radiospektrologie an der Wartenburger Allee ist äußerlich von einem x-beliebigen Verwaltungsgebäude nicht zu unterscheiden. Doch hinter den Allerweltsmauern befindet sich das exxzellenteste der Exxzelenzzentren der Bund-Länder Forschungsförderung. Die Labore und Versuchsanlagen dieses Instituts werden von menschlichen und künstlichen Intelligenzen (MI und KI)  gesteuert, die mittlerweile ununterscheidbar voneinander in einer Neuro-Cloud des Instituts  gespeichert sind.

In einem Seitenflügel des Instituts soll der Gipfel der Exxxzellenz bestiegen werden, so wenigstens Dr. Merkwürdig, der Leiter dieser Abteilung. Denn Dr. Merkwürdig wollte das Gehirn menschlicher Intelligenzen jenseits von Zahlenreihen und Kurven, von Funktions- und Datenanalysen den Menschen, das Individuum selbst entziffern. Entziffern nahm er wortwörtlich, denn das hieß den Menschen von Ziffern ablösen, um jenseits der mathematisch fassbaren Welt den Kern des einzelnen Menschen zu fassen, ihn selbst, nicht das Gehirn, gläsern zu machen – Das gläserne Ich.

Institutsdirektor Professor Hunter Thougtless,  hatte Merkwürdig erklärt, dass er von seinem gläsernen Forschungsvorhaben nichts halte, das solle er lieber Google, Apple oder Microsoft überlassen, die fahrerlose Autos, führerlose Menschen, fernerlose Algorithmen und raketenlose Marsbesiedlung  zu entwickeln  suchten.

Merkwürdig ließ sich aber nicht abhalten. Den menschlichen und künstlichen Intelligenzen des Instituts ging es nur um Gehirnzellen und neuronale Netzwerken, die sie in unzähligen Graphiken , Kurven, Datenreihen, Funktionstabellen und Neuroformeln darstellten. Aber was stand hinter diesen Kurven und Zahlenreihen? Welche Gedanken und – vielleicht – welche Gedankenabgründe? Darum ging es Dr. Merkwürdig.

Im Frühstadium seiner Arbeit versuchte er die Entkurvung von Elektroenzephalogrammen

Das Auf und Ab, das Ab und Auf der Kurven enthüllten ihm aber nicht, welche Gedanken diese Kurven steigen oder fallen ließen

Nur gedankenlose Funktionstabellen und ebenso gedankenlose Alphawellen und Omegawellen das brachte ihn nicht weiter.

Die Entwicklung der Magnetresonanztomographie (MRT) beflügelte dann seine Arbeit, weil die Schichtung des Gehirns visualisiert wurde.

Schichtung bedeutete für Merkwürdig Hierarchie des Zellenaufbaus mitsamt neuronaler Netzwerke Dieser Aufbau bedeutete, es gab ein oben und unten Oben, das war hier die Oberfläche, die sich in Zahlen erfassen ließ. Merkwürdig faszinierte die unterste Schicht, wo die bewusste Bewusstlosigkeit, der menschliche Abgrund neuronal verortet war, der der Zahlenforschung unerschließbar bleiben musste. Tomographiekonnte den Ort zwar markieren., aber mit empirischer Methodik nicht entschlüsseln.

Merkwürdig ging es um diesen Tiefpunkt des Gehirns, den Kern des Menschen, den die Hirnschichtung deutlich aufwies.  Er hatte in monatelanger, abgründiger Arbeit ein innovatives Verfahren einer enzephaloskopischen Tomographie entwickelt, mit der visuelle Impulse in übervisuellen Formen dargestellt werden konnten. Die resonante Anregung der Tiefschichtkerne durch magneto-neuronale Impulse führte zu einer Kernfusion. Durch eine skriptographische Digitalsensorik wurde die Tiefschichtkernfusion gescannt und in verständliche Formen übertragen und allgemein verständlich gemacht, und das bedeutete die Ichfusion, populär: Das gläserne Ich.

Merkwürdig taumelte vor Begeisterung, als er seine Versuchsanordnung vollendet hatte. Den Menschen als Individuum zu entziffern, ihn nicht als Zahlenträger auszuweisen, den geistigen Tiefpunkt des einzelnen Menschen selbst sprechen zu lassen, das musste das überwältigende Ergebnis seiner Forschung sein. Gedanken lesen, Gedanken steuern, durch Gedanken allein, durch Denken allein Bewegungen zu generieren, bisher unmöglich, darauf konzentrierten sich die menschlichen und künstlichen Intelligenzen des Instituts, aber das Ich eines Menschen als gläsernes Ich zu zeigen, das würde Merkwürdigs einmalige Leistung sein. Das Einmaligste des Einmaligen. Die Tiefkernfusion des Individuums. In den früheren, vorinforinformatiellen Zeiten nannte man das Geist, Seele oder was die PhilosophenTheologen sonst noch an Leersymbolen fantasierten.

Den Urgrund, Ungrund, Abgrund eines Individuums, wo Bewusstes, Halbbewusstes, Kaumbewusste, Unbewusstes, Unterbewusstes, Niebewusstes, wirr nebeneinanderlagen, durch neuronal- magnetophone Resonanzen zum gläsernen Ich zu fusionieren, zu formen, war doch ungeheuerlich.  Das musste versucht werden. Ein Test, doch mit wem?

Kollegen Dr. Tessermann, mit dem Merkwürdig schon häufig zusammengearbeitet hatte, holte er in sein Labor und bat ihn zu einem Versuch, Er wolle die Methodik seiner Anordnungen verbessern, sagte er Tessermann, ohne ihn in die Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens einzuweihen. Tessermann ließ sich die Magnetbänder anlegen. Die Ergebnisse des Versuchs wurden auf einen Bildschirm im Nebenraum übertragen, für die Versuchsperson nichtsichtbar. Merkwürdig startete seinen Versuch, ging in den Nebenraum und starrte gebannt auf den Bildschirm, wo Tessermanns Ichfusion aufleuchtete:

Das Bewusste sind die Gedanken anderer Menschen.

Das Unbewusste sind die Träume anderer Menschen.

Das Nichtbewusste sind die anderen Menschen.

Das Niebewusste bin ich selbst.

Tessermann in seinem innersten Kern? So, wie er selbst sich noch nie gesehen hatte?

Merkwürdig war überwältigt. Wurden Individuen als Fusion von Ich–Elementen in der tiefsten Schicht des Gehirns erkennbar? Weitere Tests mussten Klarheit bringen.

Merkwürdig rief Rainer Büdinger an und bat ihn zum Test. Büdinger war als grenzenloser Chaot im Institut bekannt. Er sprühte nur so von Ideen und Vorstellungen, immer etwas abwegiges, immer etwas unbedachtes, etwas struses und etwas abstruses, aber er brachte nie etwas zusammenhängend und systematisch auf die Reihe. Wie musste sein Ich-Abgrund aussehen?

Budinger kam und war sofort bereit, ließ sich magnetophon anschließen, Merkwürdig verschwand im Nebenzimmer. Die Resonanzen der Kernperson erschienen als Worte und Särze:

Jeder Mensch hat in Bewusstsein.

Ich habe ein  Besserseinbewusstsein.

Richtige Gedanken sind Gedanken, die sich nach mir richten.

Die Vorzüge anderer Menschen sind Schatten auf meinem Selbstbild.

„Geh unter, schöne Sonne“.

Meine erste Abwehr gegen klügerer Gedanken anderer ist Missverstehen.

Meine letzte Abwehr ist bewusstes Missverstehen.

Kritik an anderen schützt vor Selbstkritik.

Verantwortungsvoll denken.

Verantwortungslos handeln.

Wenn ich mich anderen verständlich mache, verstehe ich mich selbst nicht mehr.

War das Büdingers personale, innere Chaotik in Worte gefasst?

Merkwürdig war begeistert. Seine Forschungsansatz förderte Ungeahntes, Unvorstellbares, Unerschlossenes, Ungesehenes ans Tageslicht, an Menschenlicht.

Zufällig – wenn es denn Zufälle gibt – kam sein alter Lehrer, Professor Russmann zu dieser Zeit ins Institut, wo ihm nach seiner Emeritierung ein Laborplatz vorbehalten worden war. Er  schaute bei Merkwürdig vorbei und war gleich zum Versuch bereit, als Merkwürdig ihm vorschwärmte, dass er mental-personales Neuland erforsche,  dabei aber ganz allgemein blieb.

Der Versuch lief an, und Merkwürdig ging nach nebenan. Das Ergebnis erschien auf dem Bildschirm:

In der Jugend ein Weltveränderer.

Im Alter von Vierzig ein von der Weltveränderter.

In der Jugend ein Weltveränderer.

IM Alter von Fünfzig ein Welverächter,

In der Jugend ein Weltveränderer.

Im Alter von Sechzig ein Selbstverächter.

In der Jugend ein Weltveränderer.

Im Alter von Siebzig ein an der Welt Verendeter.

Auch eine Entwicklung des Ichs in der Zeit wurde sichtbar. Merkwürdig war berauscht von seinem Verfahren. Alles wurde der Tiefschicht entrissen. Russmann, den er dankend verabschiedete, enthüllte sich  glasklar als eine emeritierte Max- Planck Ruine.

Dannrief er den Markus Spotz zu sich, mit dem er ohnehin verabredet war, und der ihn gern unterstützte, – gegenseitige Unterstützung war im Institut gang und gäbe, – er wies ihn ein und das Ergebnis überraschte ihn:

„Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.“

Merkwürdig zuckte zusammen. Er hatte in seiner mental-neuronalen Region hinreichend Bildungsdaten gespeichert, um Rilkes Gedicht zu erkennen. Spielte Spotz‘  ihm einen Streich oder war seine Versuchsanordnung doch fehlerhaft, unausgewogen?

Da durchfuhr ihn ein Gedanke, blitzschneller als Blitze blitzen können. Ein Plagiat!

Ein Plagiat-Ich hatten die Frequenzimpulse aufgespürt. Ein falsches Ich im real-lebenden Ich des Markus Spotz. Im tiefsten Inneren nichts als ein Plagiat, Das hätte er sich in seinen kühnsten Wissenschaftsträumen nicht vorstellen können, dass ein Ich nicht mehr als ein Plagiat war. Ein Fake-Ego in Zeiten der Digitalisierung. Einmalig. Merkwürdig wankte vor Begeisterung. Zu Spotz sagte er kein Wort mehr und winkte ihn nach draußen. Er musste weitere Versuche durchführen. Er stellte eine Liste möglicher Versuchspersonen zusammen, das Spektrum musste erweitert werden. Da war einmal Manuela Adermann von der philosophischen Fakultät. Sie schrieb gerade an einer Dissertation über Nietzsches Übermenschen  und die nationalsozialistische Ideologie. Merkwürdig kannte sie flüchtig aus dem Diskussionskreis „Das Ich, das Überich, das Nichtich und das Nieich“. Die Adermann hatte in diesem Kreis ihre Thesen vorgestellt,

Dann fiel ihm der Hans Faller von der Kunsthochschule ein, denn der war zu allem bereit, wenn er im Mittelpunkt stand. Und dann war da der Roger Reichert, ein alter Klassenkamerad, mit dem er sich zu einem Treffen verabredet hatte. Der Reichert hatte BWL studiert und war bei der Maschinenbau AG Hartmann und Gellenberg eingestiegen. Er hatte dort eine Karriere hingelegt, die ihn in kurzer Zeit weit nach oben gebracht hatte. Ein Gipfelstütmer.

Merkwürdig holte sich die Zustimmung der drei schnell ein. Würde er in die tiefste Schicht dieser Personenmenschen eindringen können?

Manuela Adermannwar wie vereinbart zur Stelle. Sie ließ sich mit einigen Sätzen über KI und die Folgen für das Arbeitsleben abspeisen, und sich versuchsfertig machen. Merkwürdig impulsierte sie und sah das Ergebnis auf dem Bildschirm nebenan:

Ich existiere, also zweifle ich.

Ich zweifle, also denke ich.

Ich denke also bin ich.

Ich bin, aber nur ein Gedankenspiel.

Merkwürdig erkannte, wie die Philosophie sich des Ichs der Adermann bemächtigt hatte und sie zum Gedankenspielstein ihrer Systeme gemacht hatte. Das Ich der Adermann war in das System eingegangen und die eigene Ichausprägung verloren. Er leitete die Adermann mit einigen KI-Sätzen hinaus und holte den Hans Faller hinein, der schon wartete.

Faller hielt sich für einen überragenden Künstler, das ließ er jeden wissen. Wenn er redete, sprach er nur von sich oder über sich selbst. Und als er Faller den Versuch kurz andeuten wollte, überredete und überstürzte ihn Faller mit weiterem Eigenlob. Faller merkte gar nicht, dass der Versuch anlief und redete hinter dem in den Nebenraum eilenden Merkwürdig hinterher. Merkwürdig sah auf dem Bildschirm:

Wer in der Kritik noch  Selbstbestätigung finden kann, ist ein Meister selbstinszenierter Selbsttäuschungen.

Wie schön, wenn sich die Selbstsucht den schönen Schein der Selbstsuche geben kann.

Merkwürdig schaute irritiert auf den Schirm, Liefen die Impulse seiner Ich-Resonanztomographie am Tiefpunkt von Fallers Person vorbei. Eine Wiederholung musste Klarheit bringen. Doch das Ergebnis blieb gleich:

Wer in Kritik noch Selbstbestätigung finden kann, ist ein Meister selbstinszenierter Selbsttäuschungen.

Ein dritter Probelauf brachte kein anderes Ergebnis auf dem Display.

Das war also Faller. Ein Meister schon, aber nicht so einer, wie er selbst glaubte und glauben machen wollte. Alle konnte er täuschen, sich selbst am meisten, aber nicht die Ich-Resonanztomographie des Dr. Merkwürdig..

Dann lieber Roger Reichert, der gerade ankam. Er wechselte mit ihm die Leerworte und Leersätze, die alte Freunde beim Wiedersehen miteinander austauschen, dann ließ Reichert sich verstöpseln, und Merkwürdig ging nach nebenan, um die Kernfusion der Ich-Elementarteilchen von Reichert zu erleben . Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass Reichert in seiner Tiefe lyrisch gestimmt war:

Ich hatte die Illusion, ich sei eine Person.

Seit ich das als Illusion erkannt,

lebe ich in einem ichlosen Gedankenland.

Meine Ego Personen wechseln und gehen,

nur unzugängliche Gedanken bleiben bestehen.

Diese Gedanken kleiden mich personal,

und ich habe nicht mehr die eigene Wahl.

Die Gedanken kommen von außen und denken mich.

ich hoffe, sie bleiben, aber vergeblich.

So bin ich ein Bündel wechselnd wechselvoller Gedanken,

die ihr Verständnis wieder anderen Gedanken verdanken.

Bin weder ein Ich noch eine Person,

sondern nur eine leergedankliche Illusion.

Und so dreht sich alles von Anfang bis zum Ende im Kreis

Um einen ichlosen Gedankenzenit, von dem ich nichts weiß.

Merkwürdig fiel ein, dass sein alter Kumpel seinerzeit in Klasse 12 ein großer Dichter werden wollte, als von Stefan Georges Versen berauscht war. Von diesem Rausch war wohl im tiefsten Innern etwas zurückgeblieben Doch sonst? Ein Karrieremensch? Nur noch eine Karriere, die den Reichert lebte und überlebte. Die Karriere eines ichlosen Menschen. Ein gläsernes Ich? Zerbrochenes Glas oder zerbrochenes Ich?

Er verabschiedete seinen alten Freund.

Merkwürdig konnte seine innere Erregung kaum bändigen. Er überblickte seine Ergebnisse.Sie waren einzigartig. Jeder Mensch, jedes Ich erwies einzigartig, erst recht, wenn man sein Allerinnerstes  durch Impulse resonanzieren ließ. Einzigartig, – ich auch, schoss es Merkwürdig durch den Kopf. Den Bezug auf sich selbst, den er bisher eher verdrängt hatte, schaffte sich mit Gewalt Raum in seinem Innersten. Er konnte sich dem nicht mehr länger verschließen. Der Selbstversuch – Höhepunkt, Endpunkt, Tiefpunkt seiner Forschung. Er schloss sich an¸ startete den Versuch und ging zu seiner Ich-Tiefe hinüber. Auf dem Bildschirm las er:

Identität ist die Summe der eigenen Selbsttäuschungen.

Merkwürdig starrte auf den Bildschirm. Seine Forschungen, seine Einzigartigkeit. seine Identität. Sein gläsernes Ich.

 Zeitverloren verharrte Merkwürdig vor dem Bildschirm, – – – –

begeistert und entgeistert.

Bildquelle: (c) WJ

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