Novelle

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Kains Hotel

Von Martin Wessely.

Als ich ein kleiner Junge war, träumte ich häufig von einem Hotel in den Bergen. Es war ein kleines Hotel, ein familiengeführtes Haus in den Alpen. Es lag an einem See. Dort verbrachte ich im Traum viele Wochen und Monate, gemeinsam mit meiner großen Familie. Die Familie in meinem Traum hatte wenig gemein mit meiner tatsächlichen Familie. Eltern existierten nicht, es gab nur zwei Brüder (von denen keiner mein Bruder in der Wirklichkeit war) und drei unterschiedlich große Schwestern.

Die jüngste dieser Schwestern war viel mit sich selbst beschäftigt, ein stilles Mädchen, das stundenlang auf dem Rasen saß, aufs Wasser sah und Insekten beobachtete. Sie sprach nicht viel, wenngleich ihr Blick verriet, dass sie sich ständig Gedanken machte. Das war immer ganz klar, dass sie lernte und nachdachte, während wir anderen herum hampelten. Kindisch, im Vergleich zu ihr.

Die mittlere Schwester wollte zwar an allen Aktivitäten teilnehmen, fing aber grundsätzlich an zu weinen, wenn es auch nur den kleinsten Widerstand gab – ein Ball flog nicht wie geplant, ein Schlauchboot trieb nicht in die richtige Richtung, eine Wespe griff sie an. Wir alle waren genervt von ihr und bemühten uns stets, sie auszugrenzen. Ohne Erfolg, denn sie bekam immer Wind von unseren Vorhaben.

Die größte Schwester tauchte nur auf, wenn ich ein Problem hatte und mich mit jemandem besprechen wollte. Sie ersetzte mir die Mutter, die ja nicht zu Gast war in meinem erträumten Hotel am kleinen See in den Bergen. Die große Schwester war eine weise Mutter, die in Rätseln sprach, aber sich stets geduldig meiner Sorgen annahm. Ihre Antworten auf meine Fragen klangen zumeist unverständlich. Wenn ich aber darüber nachdachte, ergaben sie meistens einen Sinn. Ich glaube, sie legte ihre Antworten ganz bewusst so aus, dass sie mir Interpretationsspielräume ließen und die Form annahmen, die meine Fragen gehabt hatten. Wie flüssiges Metall, dass in eine unsichtbare Form in der Erde gegossen wird, um im Verborgenen zu einer Glocke abzukühlen. Sie war großzügig und gütig. Ich beneidete schon damals die Kinder, die sie einmal haben würde.

Wenn es keine Probleme gab, tauchte die älteste Schwester nicht auf. Sie war dann einfach nicht vorhanden. Sie hielt sich zurück, unsichtbar wie ein Airbag, den man hoffentlich niemals zu Gesicht bekommt, so lange man mit ihm unterwegs ist.

Meine zwei Brüder waren sehr unterschiedlich.

Der jüngere war mein Spielkamerad und ging mit mir durch Dick und Dünn.

Wir teilten Bonbons miteinander und freuten uns, wenn wir Taschengeld hatten, um uns kleine Papiertüten mit Süßigkeiten zu kaufen, die man sich im Krämerladen selbst zusammenstellen konnte. Die anderen Kinder hatten allesamt Familienpackungen mit Schokoriegeln, große Tüten mit Marshmallows und Fünf-Liter-Kanister mit Cola dabei. Sie verspotten uns als arme Schlucker. Wir aber wussten, dass Genuss etwas ist, mit dem es Maß zu halten gilt. Wir waren dünn und zufrieden, weil wir einander hatten. Wir ersannen täglich neue, spannende Spiele und entdeckten Geheimnisse unter jedem Stein, während es aus den Zimmern unserer Kameraden blau gewitterte, weil irgendein Spektakel sie vor einen Bildschirm bannte.

Nahe des Hotels gab es eine Art Kläranlage, die geruchlos und auch optisch nicht als solche zu erkennen war. Das flache, klare Wasser dort suchten wir uns zum Spielen aus. Ich war ein großer Freund und Erforscher von Lurchen, Molchen, Kröten und Fröschen. Sie alle untersuchte ich, nahm sie vorsichtig in die Hände und betrachtete sie, um sie dann unversehrt wieder zu entlassen. Mein jüngerer Bruder teilte meine Begeisterung.

An einem Nachmittag, während die Grillen zirpten und ich im Wasser stand, merkte ich zu spät, dass der Boden unter mir allmählich nachgab. Während mein Bruder sich halb belustigt, halb entsetzt kreischend ans Ufer rettete, steckte ich schnell knietief in dem, was sich später als Fäkalien herausstellen würde. Mein Bruder lief umher und suchte nach einem Stock oder einem Seil, das er mir zuwerfen könnte. Er fand nichts. Irgendwann gab er es auf, setzte sich ans Ufer und sah mir mit Tränen in den Augen dabei zu, wie ich tiefer sank. Die Grillen zirpten jetzt sehr laut. Es klang wie ein Abgesang. Das war die Melodie meines Untergangs. An diesem Punkt hoffte ich kurz, aufzuwachen, auch wenn ich sicher in meinem Bett lag.

Irgendwann kam mein älterer Bruder und sah mir ebenfalls zu. Er lächelte. Ich war sein Konkurrent, eine Gefahr für ihn. Er wünschte meinen Untergang seit langem herbei. Erst in letzter Minute, als es mir bereits bis zum Hals stand, warf er mir einen alten Fahrradreifen zu, den er an ein Seil gebunden hatte. Daran zog er mich lachend aus dem dunklen, erst jetzt übel riechenden Morast.

Mein älterer Bruder war ein Schaumschläger, der allen Mädchen nachstellte, die in dem Hotel zu Gast waren. Er war auch hinter meinen Schwestern her. Mein Befremden darüber machte die Traumkonstruktion etwas anfällig und ich wünschte mir in solchen Szenen, Einfluss nehmen und es verhindern zu können. Ich verachtete ihn, aber auch die, die sich von den erfundenen Heldentaten blenden ließen, mit denen er sich brüstete.

Um seine Lügen vor sich selbst zu rechtfertigen, hatte er eine bestimmte Taktik erfunden. Er nahm ein (im Traum) reales Ereignis und ergänzte es mit fantastischen Elementen, um den Unterhaltungswert zu steigern. So konnte er im Brustton der Überzeugung beteuern, dass er nicht lüge, konnte schwören beim Leben seiner Mutter (die es ohnehin nicht gab) oder anbieten, auf der Stelle tot umzufallen, wenn seine Geschichte nicht wahr sei. Auch wenn er ihn halbtot am Ufer aufgelesen hatte – er hatte einen Fisch gefangen. Soviel stimmte immer.

Tatsächlich hatte ihn ein Fremder im Dorfladen geschubst, weil mein Bruder sich provozierend in dessen Weg zur Eisbox gestellt hatte. Er wollte einer Dorfschönheit imponieren, um sie für sich zu gewinnen, um sie jauchzend zu beschmutzen, alsbald zu vergessen und mit gebrochenem Herzen und enttäuschten Erwartungen zurück zu lassen. Tatsächlich hatte er seinen Kontrahenten auch zurück geschubst und gesagt, er solle ihn in Ruhe lassen. In seinen Erzählungen war es dann eine ganze Jugendbande, die ihm aufgelauert hatte, denen er aber mit einer kräftigen Tracht Prügel für den Anführer zuvor gekommen war. Am Ende hatte er aufstecken müssen, weil sie in der Überzahl waren.

So erzählte er es, wenn die dummen Gänse und sogar einige Erwachsene abends am Lagerfeuer im großen Garten des Hotels um ihn herumsaßen.

Die Gänse huldigten ihm, bekamen feuchte Augen und träumten von gemeinsamen Abenteuern mit diesem Helden.

Die Erwachsenen lobten den Mut des jungen Mannes, der dem entsprach, was auch sie in ihren erträumten Erinnerungen gewesen waren. Es gab sie also noch, die schneidigen jungen Leute, die so waren wie sie selbst, in der guten alten Zeit.

Ich blieb im Dunkeln, hasste die Heuchelei, schlich in dem Garten des Hotels allein herum und traute mich nicht, mich dazu zu setzen. Es war mir so peinlich, einen solchen Aufschneider zum Bruder zu haben, dass ich fürchtete, ihn versehentlich zu verraten und dann schlimme Konsequenzen erdulden zu müssen.

Irgendwann war mein kleiner Bruder aus meinen Träumen verschwunden. Ich suchte ihn im Hotel, im Garten, auf der ganzen Anlage. Ich tauchte hinunter auf den Grund des Sees und selbst dort war er nicht zu finden. Ich stieg auf einen Berg und sah mich um, wartete auf ein Zeichen von ihm. Er blieb verschwunden.

Er tauchte niemals wieder auf, von einer Nacht zur anderen war er nicht mehr da.

Mein Spielkamerad war mir genommen worden. Ich ahnte, wer dahinter steckte. Mein älterer Bruder grinste mich böse an, wann immer ich ihn sah.

Das schöne Hotel, das Gefühl der Geborgenheit, dass es trotz des einen Störfaktors gehabt hatte, war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vorhanden. Plötzlich lag das Hotel nicht mehr mitten in einem flachen Tal, sondern an einem Berghang, so dass an der Seite, zu der mein Zimmer lag, eine dunkle Felswand vor dem Fenster aufragte. Sie wuchs und immer, wenn ich nach einem Ausflug oder ein paar ausgelassenen Stunden am See zurück in mein Zimmer kam, war es dunkler und bedrohlicher geworden. Keine Sonne drang mehr herein, Meter um Meter wuchs die Felswand vor mir in die Höhe. Kleine Brocken lösten sich und fielen in mein Zimmer, wenn ich das Fenster öffnete. Irgendwann schloss ich es für immer, zog die Vorhänge zu und lebte fortan ohne Tageslicht.

Auch die Erwachsenen waren verschwunden. Mein Bruder hatte das Hotel übernommen. Er herrschte jetzt hier und ich wusste, dass ich gut daran tat, im Hintergrund zu bleiben. Jede Nacht verschwand eines der Mädchen mit ihm und er kehrte allein zurück, jeden Tag verlor der Garten, der See und das Hotel einen bunten Strauch, eine Schaukel, einen Steg oder einige der Boote. Alles wurde einfacher, schematischer, während mein Bruder sich ausbreitete, sein leeres Geschwätz alle überzeugte und niemand mehr da war außer mir, der ihn entlarven konnte. Das Hotel wurde kleiner und begann, sich zu reduzieren. Die Außenwände verschwanden, so dass es aussah, wie eine Puppenstube. Kleine Menschen liefen darin herum, erledigten allerlei übliche Verrichtungen und schienen nichts von den Vorgängen um sie her zu bemerken.

Dann verschwanden einzelne Zimmer. Das Hotel verwandelte sich in eine Art Schweizer Käse. Große, viereckige und rechteckige Löcher klafften dort, wo kurz vorher noch ein Schlafzimmer oder ein Bad gewesen war. Alles verschwand, nur die Flure, die zum Speisesaal und zu den Zimmern meines Bruders und mir führten, blieben bis zuletzt. Es war eine grotesker Anblick. Die Struktur ragte haltlos in den Raum und war entgegen allen Gesetzen der Physik stabil. Ich konnte meinen Bruder jetzt immer sehen, er konnte mich immer sehen. Es gab kein Ausweichen mehr, denn jeglicher Unterschlupf außerhalb meines Zimmers hatte sich in Luft aufgelöst.

Bildquelle: (c) DA

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