Novelle

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What are the odds?

Von Louisa Schmökel.

Es standen ein Deutscher, eine Österreicherin, ein Amerikaner und eine Spanierin um einen Tisch herum. Bei ihnen handelte es sich keinesfalls um die Protagonisten eines schlechten Witzes, sondern um die vier mächtigsten Männer und Frauen der Welt. Die Crème de la Crème der Clique der Staatsoberhäupter. In ihren von langen Krisensitzungen und kurzen Nächten blassen Gesichtern spiegelte sich eine Mischung von Scham, Furcht und Neugier. Ihre Blicke richteten sich gebannt auf das Zentrum eines Tisches, auf dem ein Würfel lag. Klackernd rollte er über die hölzerne Platte, vollführte auf einer Ecke eine anmutige Pirouette und kam allmählich zum Stillstand. Sechs kleine, schwarze Augen blickten den vier Politikern entgegen.

Alea iacta est. Alle wussten, was das bedeutete.

Weinende nordkoreanische Funktionärsfrauen in bittersüßer Enttäuschung darüber, dass ihre Männer ohne Designerkostüme und Edelparfum von ihren Geschäftsreisen zurückkehrten. Diese sechs Augen würden die Ehe der Jeongs in einen agonischen Todeskampf befördern oder vielleicht eher in einen Zustand, den Schrödinger einst mit einem Gedankenexperiment zu beschreiben versuchte, wenn sich die unglückliche Frau Jeong, die sich ja nicht scheiden lassen konnte, ins innere Exil zurückzog.

Von den Leiden der Jeongs ahnte man in Berlin freilich nichts. Wohl aber war man sich der Tragweite des Wurfes bewusst. Sechs Augen bedeuteten in der postfaktischen Politik eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen für Nordkorea, maßgeblich voran getrieben von den Vereinigten Staaten von Amerika. Zumindest mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs.

„To be honest, I am not surprised“, bemerkte der amerikanische Präsident, der auf den Namen Jon hörte. ‚We were planning on intensifying these sanctions for a long time‘.

„Yo tampoco“, pflichtet ihm die spanische Präsidentin bei, die auf den Namen Rita hörte.

„Darauf hätten wir auch ohne den Würfel kommen können“, bemerkte der deutsche Kanzler, der auf den Namen Ralf hörte.

„‘S hab ich ja von Anfang an g’sagt!“, sagte die österreichische Kaiserin, die auf den Namen Linda hörte.

Schweigen legte sich wie ein Leichentuch über die Anwesenden Sie hatten alle schlaflose Nächte hinter sich. Die Angst um die Zukunft ihrer Länder verfolgte sie alle bis in ihre Träume. Es waren schwierige Zeiten für den Berufsstand des Politikers angebrochen, seit der Großteil zukunftsändernder Entscheidungen auf den Ergebnissen eines Würfelspiels beruhte. Ganz besonders schwierige Zeiten, da sich jede dieser Entscheidungen nur auf eine Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs stützen konnte. Doch all der Unsicherheiten zum Trotz war es die sicherste Methode, über die sie in einer Zeit verfügten, die Fakten mit nackter Verachtung begegnete. Zudem war das zentrale Dilemma der internationalen Politik nicht länger ausschließlich der eklatante Mangel von Vertrauen zwischen den Staaten (die gute alte Zeit!). Unberechenbarkeit bestimmte die Beziehungen zwischen politischen Akteuren. In einer Ära, in der Tatsachen bestenfalls Glaubensfragen waren, war der Zufall die einzig stabile Konstante. Und so würfelten die Mächtigen der Erde um die Wette und bestimmten das Weltgeschehen mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs.

„Shall we?“

„Was wär‘ denn S’nächste?“

„La reacción de Corea del Norte frente a las sanciones.”

“What?” So sehr der amerikanische Präsident die Einordnung von Menschen in apriorische Kategorien auch hasste – er sprach kein Spanisch.

“Die Reaktion von Nordkorea auf die Verschärfung der Wirtschaftssanktionen.“

„Aah! Well, any volunteers?“

„No, pero tengo una idea. An idea!” Rita hatte noch immer große Schwierigkeiten, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass der Zufall fortan ihre Entschlüsse steuerte. Doch all ihrer Vorbehalte zum Trotz, musste sie sich eingestehen, dass sie bisher mit fast allen politischen Vorhersagen, die empirisch fundiert waren, falsch gelegen hatte. Sie konnte von Glück sagen, dass ihre Minister immer ein Deck Tarotkarten mit sich führten, sonst hätte sie ihre naive Faktentreue längst aus dem Amt befördert. Und dennoch: Sie hatte nicht sechs Jahre an den besten Universitäten ihres Landes studiert, um am Ende politische Entscheidungen auszuwürfeln!

Rita senkte die Stimme, als sie weitersprach: “Un libro sobre las Relaciones Internationales!”

Für diesen Vorschlag erntete sie mitfühlende Blicke.

Als Linda ihr mit einem aufmunternden Lächeln den Würfel in die Hand drückte, spürte Rita wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Dann holte sie aus. Vier gespannte Augenpaare folgten dem hohen Bogen, den der Quader vollzog bevor er hüpfend auf der Tischkante landete. Er verharrte dort wenige Sekunden, dann stürzte er hinab und riss die ganze Welt mit in den Abgrund. Zu diesem Zeitpunkt ahnten die Politiker noch nicht, dass Ritas schwungvoller Wurf soeben das Ende der Welt, wie sie sie kannten, besiegelt hatte. Nun, vielleicht ahnten sie es schon.

„¡Puta Madre!, entfuhr es Rita. In diesem Augenblick erschloss sich sogar Jon die Bedeutung ihrer Worte.

Auf den Boden lag eine Drei.

„That doesn’t count, right?“, rief Jon in heller Panik aus. “I mean, the cube literally fell off the table!”

“Für was tut die Drei denn noch einmal steh’n?

„Atomkrieg.“

Nuclear war. The word echoed ominously in Jon’s head. He glanced at the die, astounded by the fact that this small piece of plastic possessed the power of determining the end of the world. Not determining, he tried to calm himself, just observing with a chance of one to six. Still a damn high chance if it was for him.

Jon missed the time when politics were predictable, when world leaders were subjecting themselves to the rules of logic, when confusion had been considered a lack of organization or an unfortunate state of mind but certainly not a mean to an end. But those times were over. Sometimes Jon could not get rid of the feeling that the modern obsession with unpredictability in politics was a fight against science itself. Chaos as an ultimate instrument to disable everyone from comprehending politics by the means of reason. For knowledge, too, itself was not a power no longer.

‘I am serious. Does this cast even count? Is there any precedence for this case?’

Linda shook her head. ‚Ich fürchte nicht. Für g’wöhnlich nehmen wir einen Würfelbecher.‘

Maybe we should have used one, too. Since error was human, error did not tend to upset Jon very much. Of course, this did not include potential nuclear wars.

‘North Korea attacking us. This is lunacy! No, there must be another answer here. There was a valid number on the table before the die fell off. I say, we ignore the three for the beginning and go on as usual.’

’Aber was is, wenn der Würfel doch recht hat?‘

‘Pienso que Jon tiene razón. Tiramos otra vez!“ Without waiting for an answer, Rita grasped the die. ‘Qué es el próximo punto en la lista?”

‘Die Antwort der USA.‘

Rita rolled the cube and then her brown eyes. The die cast.

‘Puta madre!’

‘I may not understand your language but right now you couldn’t describe my feelings in any better way.’

Three pips were gazing with careless cruelty at the politicians. Nuclear war.

‘Logisch. Das ist der nukleare Gegenschlag.”

‚Redundant to roll the dice for that. I could have told you before’, Jon muttered soundlessly.

‚Falls der vorherige Wurf gezählt hat‘, Ralf remarked. ‚Andernfalls ist dies noch immer die Reaktion von Nordkorea.’

‚‘S würde ja b’deuten, dass wir mittlerweile bei einer Wahrscheinlichkeit zwei zu sechs lägen.‘

‚Dos veces trés. Estáis pensando lo mismo que yo?’

Ralf nodded slowly. ‘Das kann kein Zufall sein. In keinem der beiden Fälle. Jon, wir dürfen diese Bedrohung nicht ignorieren! Entweder stützt dieser Wurf die Nordkorea-These vom Atomkrieg oder er sagt den nuklearen Gegenschlag voraus – es läuft beides auf das gleiche hinaus. Wir müssen handeln!‘

‚No, no, no, no.’ Jon buried his face in his hands. This could not be real. ‘Maybe we should roll the cube a third time? Just to make sure.’

‘Warum?’

‘To prove that …’ Jon could not believe that he was actually saying these words. ‘… that the cube is right. If we would be attacked by North Korea, we definitely were striking back. We would pulverize fucking Pyongyang with our nukes! So the next cast has to be a three.’

‚Nicht, wenn alle drei Würfe gültig waren. Dann würde die Liste zum nächsten Land weiter gehen.‘

‚To whom? Who is next on the list?‘

‘Russland.’

‘Russia no mantenerá inactivo frente a una guerra nuclear.’

‘Du meinst, wir können Russlands mögliche Reaktion als Verifikation nutzen? Wenn der erste Wurf ungültig war, dann müsste jetzt, wie Jon sagte, eine weitere drei kommen, da die USA auf einen Angriff Nordkoreas ausschließlich mit einem nuklearen Gegenschlag reagieren würden. Jede andere Zahl außer drei würde unweigerlich die Politik eines anderen Landes beschreiben und uns verraten, dass der erste Wurf gültig war.‘

‚That sounds … logical. I gonna do it‘

‘Quieres predecir tu propia acción?’

Quite aware of the fact that he might cause a diplomatic crisis Jon ignored Rita’s puzzling words. Howsoever his arrogance would affect the relationship between Spain and the United States, the United States’ situation could impossibly compound. His fingers were shaking when he rolled the cube across the table.

Time seemed to decelerate, crushed from the weight of the predication’s meaning. Four hearts stopped simultaneously when the die finally came to halt.

One pip.

One as unconditional surrender.

As Jon understood the full consequences of this cast, horror struck him. The cube was not predicting Russia’s future. Apparently the first cast has not been valid. This cast was predicting the action of his country, the United States. Unconditional surrender. There would not be a nuclear counter-attack because there was nothing to strike back with.

‘It is true’, Jon whispered in disbelief. He could hear his heart beating in his ears. ‘North Korea will not hesitate and destroy us. We will have no choice but to surrender.’

All these years North Korea’s nuclear program had hung like a Sword of Damocles over their heads. The nuclear threat finally has come to a solid shape – with the odds of two to six. But since the danger his country was in could not possibly be any more realistic, he would not take any chances. He picked up the phone. The time frame was small. If he wanted to save the American people he had to execute the nuclear preventive attack as long as the unpredictability was in his favor.

Bildquelle: (c) DA

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