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Man sieht sich

Von Bernhard W. Rahe.

„Wenn Du bald ohne Augenklappen durch die Straßen gehen wirst, mein Junge, dann wirst Du erst einmal nur Schatten wahrnehmen können, weißt Du. Du kannst dann Schatten oder vielleicht auch Konturen erkennen. In den ersten Tagen wird es aber dabei bleiben. Na ja, es wird fabelhaft aber auch sehr fremd für Dich sein. Völlig klar wirst Du die Welt erst später erkennen können, verstehst Du – wenn Deine Augen trainiert sind. Die Nerven und Sehnen müssen langsam miteinander verwachsen und Verbindungen eingehen. Alles soll in den nächsten Wochen verheilen. Noch ein wenig Geduld und Du kannst leben wie ein völlig gesunder, junger Mann.“
„Ja, ich verspreche, dass ich Geduld haben werde“, sagte der Blinde und wiederholte die Worte des Arztes.
„Ich werde nur Konturen sehen können oder Schatten, sonst nichts. Aber immerhin, ich kann dann schon etwas sehen, die Dunkelheit sperre ich fort wie ein böses Gespenst.“
„Ja, das tu nur. Es wird fabelhaft für Dich sein, mein Junge. Du bist ein tapferer und geduldiger Patient.“
Der Arzt klopfte ihm auf die schmale jugendliche Schulter.
Der Junge lächelte. Unter dem Verband, den er vor seinen Augen trug, bewegten sich ein wenig die Augäpfel, so, als würden die Augen jetzt strahlen oder lachen oder weinen wollen.
Der Raum war verdunkelt, ein schmaler Spalt ließ ein paar abendliche Sonnenstrahlen in das Zimmer hineingleiten und auf den Boden fallen. Außer den Medikamentenschränken befanden sich zwei Tische, ein Schrank, ein paar Stühle und das Krankenbett im Raum.
Der Arzt verabschiedete sich von dem Jungen, dem man vor wenigen Wochen zwei neue funktionsfähige Augen eingepflanzt hatte. Er tätschelte die Wange des Burschen, sagte noch etwas Nettes, ergriff sein Buch für die Notizen und ging aus dem Krankenzimmer. Er verschwieg etwas Wichtiges und wenn es ginge, würde er die Wahrheit noch lange, sehr lange, zurückhalten.
Man hörte die Schritte des genialen Chirurgen im langen Flur, wie sie sich langsam in der Weite der Räumlichkeiten verloren und mit den vielfältigen Geräuschen dieses Hauses vermischten.
An einem neuen und helleren Tag:
Aus weichen dicken flauschigen Linien wurden langsam aber stetig deutlichere Konturen. Diese Konturen wuchsen aus einer Fülle von bunten Schlieren hervor, die ein im Licht blinzelndes Auge so wahrgenommen hätte.
Die Augen des Jungen blickten in die Welt, die nicht mehr dunkel, nicht dumpf und leer war. Körper, die vor diesen Augen auftraten, schienen dauernd in Bewegung zu sein.
Ein seltsamer Gedanke durchzog plötzlich den Geist des Jungen. Waren es vielleicht turnende, Bananen essende, feixende, kreischende, affig – absurde, zottelige, unmenschliche Körper, die wie verwaschene fellige Flecken umherhuschten?
Der Junge sah erstmals in die Welt, die er so nicht vermutet hatte. Er sagte den erwartungsvollen Ärzten aber nichts davon. Er wollte sie nicht beunruhigen und er hatte Angst, dass man ihm seine unvollkommenen Bilder wieder nehmen könnte. Auch wenn diese andere Welt verdreht und fremdartig schien, er würde sie so behalten wollen. Er würde sie hier und da schon für sich zurechtrücken. Manchmal schoben sich Bilder in das Gesichtsfeld des Jungen. Es war, als würden Gegenstände oder umhereilende Körper ihre Schattenrisse von Zeit zu Zeit ändern wollen oder ganz verlieren. Die Linien und die Formen schlingerten zuweilen, waren instabil, verwirbelten und fielen Spiralen drehend in sich zusammen. Neue Bilder bauten sich für wenige Sekunden auf und verschwanden dann wieder.
Auf dem kleinen Tisch lag der Verband, den der Junge in den letzten Tagen getragen hatte, er brauchte ihn nun nicht mehr. Die Augen, die der Stoff umhüllt hatte, sahen heute aus einem fremden Kopf hinaus, tasteten sich zaghaft durch die Bilder einer merkwürdigen vielfältigen bunten Welt.
„Kannst Du etwas erkennen?” fragte eine blutjunge Ärztin. Der Junge liebte den Körpergeruch dieser Frau, die er noch nie gesehen hatte. Wie gern würde er ihr Gesicht sehen.
„Ja, ich kann etwas erkennen. Ich glaube, ich sehe Ihren Kopf. Sie haben langes Haar, vielleicht ist es braun, oder schwarz, halt dunkel, denke ich.“
„Du hast recht, was kannst Du noch erkennen, wenn Du Dich im Raume umsiehst?“
Der Junge drehte seinen Oberkörper zur Fensterseite, aus der wieder ein verlassener später Lichtstrahl in den Raum viel.
„Ich glaube, ich kann einen kleinen hellen Fleck erkennen.“
Der Junge deutete mit seiner farblosen Hand in die Richtung eines Fensters. Er war nun ganz aufgeregt und zitterte unmerklich.
„Da ist Licht, da muss es sein. Ich habe noch nie Licht gesehen, ist es das, ist das Helle dort drüben wirklich, wirklich Tageslicht?“
„Ja, mein Junge, das ist Licht“, sagte der Arzt ganz feierlich, er lächelte. Der Junge konnte das Lächeln nicht sehen.
„Du hast wundervolle, große, neue Augen, die sehen können, und die sind ganz schwarz wie ein Stück Kohle, das unsere Herzen wärmt. Sie sind so schwarz und schön wie sie nur sein können. Du wirst bald endlich richtig sehen, alles.“
Der Junge war glücklich. Er konnte Gegenstände wahrnehmen und er konnte Körper sich bewegen sehen. Körper, alles fremde Körper, deren Oberflächen geliehenes Licht aus einer fernen Welt auf die Netzhäute seiner Augen rieseln ließen. Sanfte Lichtstrahlen, die auf schwarze, große, sehende Augen vielen. Und der seltsame Gedanke an die zotteligen Tiere, das war doch nur eine Täuschung, wie sich später herausstellte. Es war die Phantasie eines zuversichtlichen, blinden Burschen.
Der Junge erzählte nichts davon. Er war wie hypnotisiert, dass er zum ersten Mal seinen eigenen Körper betrachten konnte. Wie bewegt er feststellte, dass er Arme und Beine hatte, so wie ein gesunder Mensch. Wie er sich ganz lange und andächtig betrachtete. Ein Mensch, der Turnen, Springen, Schwimmen, Spielen und später mit seinen Kindern an der Hand in den Zoo gehen konnte. Das tat er aber jetzt schon, ohne Kinder, an Sonntagen, um die feixenden Affen mit den schwarzen, großen, warmen Augen zu bewundern.
Wenn diese Augen den Jungen erblickten, was in dieser Zeit recht häufig der Fall war, hörten die Affen auf zu Turnen und zu Springen.
Eine Art magischer Moment ließ dann alle Bewegungen ersterben. Sie saßen plötzlich ruhig da und betrachteten den Jungen, so, als würden sie ihn irgendwoher aus einer fernen Vergangenheit kennen wollen. Die Affen schauten den Jungen, auch wenn sich das merkwürdig anhört, irgendwie verliebt forschend und ganz seltsam vertraut an.
Einen neuen Lieblingssatz sprach der Junge von nun an bei jedem Abschied und das tat er mit wachsender Begeisterung.
Er sagte dann immer: „Man sieht sich“ – und gerade diese Worte markierten eben das, was die Verpflanzung von Augen ans Licht brachte. Ein mysteriöses neues Sehen.

Bildquelle: (c) DA

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