Novelle

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Ed

Von Robert Odei.

Ed, obwohl schon fünfundvierzig Jahre alt, erwachte so, wie ein Baby erwachen würde. Nämlich quengelnd, weil sein tiefer, bleierner Schlaf gestört wurde.

Es heißt, dass im Schlaf allein der Geruchsinn vollkommen ausgeschaltet ist, während alle anderen Sinne auf einer unterbewussten Ebene weiterfunktionieren. Darum finden so viele Menschen den Tod im Bett, während das Haus um sie herum in Flammen steht. Ihre Nase reagiert einfach nicht auf den Rauch.

Die tintenschwarze Welt, in der sich Ed verloren hatte, rumpelte. Alles wackelte und ein hydraulisches Quietschen quälte sein umhertreibendes Bewusstsein. Die wenigen Sekunden der Glückseligkeit, die wir empfinden, bevor wir uns daran erinnern, wer wir sind, tickten davon – und schließlich nahm er den Geruch um sich herum wahr. Der gallige Gestank von Biomüll stichelte in seiner Kehle.

Hustend und würgend versuchte er, sich aus seiner liegenden Position aufzurichten, stieß aber nur gegen ein metallenes Hindernis. Er öffnete die Augen und sah nur Chaos.

Eingewickelt in Maschendraht, in alten Kupferrohren und zwischen aufgeschnittenen Kanistern voller Dreck verstand Ed nicht, wo er sich befand. Splitterartig fiel Sonnenlicht durch die Ranken aus Müll und blendete ihn, als er den Blick umherwandern ließ.

Es rumpelte wieder, dann zischten die Bremsen eines großen Fahrzeugs. Der ganze Müll rutschte einige Zentimeter nach vorn, und Ed schrie auf, weil er befürchtete zerquetscht zu werden. Doch nichts weiter geschah, alles stand still, und er schaffte es, sich halbwegs zu entspannen.

Der Verkehrslärm verriet ihm, dass er sich mitunter auf einer Straße befinden musste. Irgendwo wummerte ein Autoradio.

Eigentlich war es gar nicht so unangenehm. Das Vibrieren des Lasters im Leerlauf, auf dem er sich unzweifelhaft befinden musste, lullte ihn ein. Er gab sich der Versuchung hin und wäre fast wieder eingeschlafen, doch ein Gedanke riss ihn in die Realität zurück:

Die Schweine haben mich vergiftet!

Die aufwallende Erkenntnis verwandelte sich in Fluchtpanik. Ed richtete sich ruckartig auf und wurde unbarmherzig gestoppt, als er mit dem Kopf gegen ein überragendes Rohr stieß. Rotes Licht explodierte vor seinen Augen, und er fiel zurück in seinen seltsamen Käfig. Übelkeit stieg in ihm auf. Und die Angst sich die Stirn aufgeschlitzt zu haben und auf diese Weise den ganzen Müllbakterien einen Weg in seinen Körper zu bieten. Mit etwas Mühe befreite er den rechten Arm aus einem Drahtgittergeflecht und tastete mit schmutzigen Fingern nach seiner Stirn. Über dem rechten Auge brannte die Haut, aber als er die Finger zurückzog, klebte kein Blut an ihnen. Trotzdem spürte er keinen Trost. Nur Frust.

Wie war er nur in diese Situation geraten? Die Suche in seiner jüngsten Erinnerung brachte nur Schwärze zum Vorschein. Er hatte geschlafen. Sehr lange.

Doch was war davor gewesen? Hatte es Streit gegeben? Hatten seine Freunde ihn wirklich vergiftet und irgendwo abgeladen?

Unerwarteterweise erstarb der Motor des Lasters, auf dessen Ladefläche Ed lag. Er war sicher gewesen, dass sie nur an einer Ampel hielten und gleich weiterfahren würden, aber offenbar hatte er sich getäuscht. Von draußen rief jemand laut Hoooooo! Dann rumpelte es wieder.

Wenn die jetzt noch eine Ladung Müll auf mich draufschippen, bin ich tot, dachte er. Und dieser Gedanke beflügelte ihn auf wunderbare Weise.

Jemand, wahrscheinlich war es Henrik gewesen, hatte einmal gesagt, dass Ed sich wohl durch jedes Loch zu quetschen vermochte, durch das er zuvor den Kopf stecken konnte. Dabei hatte der blonde Henrik Ed mit einem Blick bedacht, der es unmissverständlich ließ, dass das nicht als Kompliment gedacht war. Nun, ob Kompliment oder nicht, er hatte nicht ganz unrecht.

Ed wog zu seinen besten Zeiten nicht mehr als fünfzig Kilo. Seine Schultern ragten kaum über die Breite seines Kopfes hinaus. Seine Arme und Beine wirkten wie Besenstiele, die man in ein Hemd und eine Hose geschoben hatte. Vielleicht lag es an seiner Statur, vielleicht hatte Ed auch nur Glück, aber er schaffte es nach einigem Kriechen und Winden, sich halbwegs aus dem Berg gemischten Mülles zu befreien. Er holte sich Kratzer und Abschürfungen, riss sich das Hosenbein auf und blieb mehrmals hängen, bevor er die Seitenwand der Ladefläche erreichte. Mit beiden Händen packte er die rostige Kante und zog sich auf Sichthöhe, um endlich zu sehen, wo er war.

Ohne den geringsten Hauch der Überraschung erkannte er, dass er in einer Zufahrt zum Naxos-Gelände stand.

Kliro-Klaro, dachte er, diesen fantasielosen Idioten ist wirklich nichts Besseres eingefallen, als mich im eigenen Revier abzuladen.

Ein Blick hinunter zeigte ihm, dass er in einem Schuttcontainer der FES saß. Die Stadt hatte die illegale Deponie entdeckt.

Mensch, Ed, du hast mehr Glück als Verstand.

Unbeholfen streckte er ein Bein über die Wand des Schuttcontainers. Er wuchtete sich hinüber auf die andere Seite und hing kurz an seinen Armen herab, bevor er losließ und zu Boden fiel. Er landete auf den Füßen, tänzelte drei Schritte rückwärts und fiel auf den Hintern. Schnell rappelte er sich auf und ergriff die Flucht, bevor ihn einer der Männer von der Müllabfuhr sehen konnten.

Er lief durch die Zufahrt hinaus auf die Allee. Leicht orientierungslos musste er sich mehrmals im Kreis drehen, bevor er die richtige Richtung zur Straßenbahn einschlug. Dabei kochte er vor Wut.

Die Ordnung in Eds Leben war zerstört worden.

Henrik und Sunja…

Sunja und Henrik…

Alle beide!

Sie waren ihm in den Rücken gefallen! Hatten ihn vergiftet! Und hatten ihm das Wichtigste in seinem Leben gestohlen, nachdem sie ihn einfach auf der Müllkippe entsorgt hatten.

Gehetzt, mit schwitzigen Augen, humpelte Ed durch die Straßen. Er hasste es, unter Menschen zu sein, darum schrumpelte er in seinem Körper zusammen, um wenig Angriffsfläche für die Neugier der anderen zu bieten. Zwischendurch fluchte er immer wieder, wenn er an Henrik und die Hexe Sunja dachte.

An der Waldschmidtstraße wurde er begafft, bis die Straßenbahn kam und er hineinflüchten konnte. Die Bahn war brechend voll, aber Ed brauchte nur die Arme zu heben und seine Magie zu wirken, damit die Leute naserümpfend vor ihm zurückwichen. Bis zur Ostendstraße hatte er einen Vierersitz für sich allein.

Danach ging es weiter. Sich orientieren… Die S-Bahn finden… Den Rotkäppchen aus dem Weg gehen… Und die ganze Zeit musste er sich zwingen, nicht lautstark zu fluchen, darum murmelte er lieber in sich hinein.

Eigentlich war er sich gar nicht sicher, dass er Henrik und Sunja sofort finden würde, allerdings gab es da eine winzige Chance. Wenn die beiden sich weiterhin als so fantasielos herausstellen sollten wie bisher, dann gab es da eine gewisse Wahrscheinlichkeit…

Am Hauptbahnhof angekommen hastete Ed die Rolltreppe hoch. Er kam direkt an den Fernbahngleisen heraus und musste nur noch bis zum McDonalds laufen. Und tatsächlich! Beim ersten Schritt durch die Tür sah er die beiden Verräter am Tisch sitzen und essen. Diese unglaubliche Dreistigkeit!

Er schob sich schnurstracks durch die Schlangen vor den Kassen und setzte sich auf den Stuhl gegenüber seiner beiden Freunde.

Henrik… Er hob den Blick, grinste und schob sich eine Pommes zwischen die Zähne. Nicht das Fünkchen einer Schuld trübte seine eisblauen Augen. Seit sie sich kannten, hielt Ed den blonden Henrik für ein Phänomen: Er besaß keinerlei Humor, trotzdem grinste er ständig – so wie ein geschnitzter Kürbis grinst, weil er keine Wahl hat.

Henrik war vierzig, sah aber aus wie zwanzig. Und er war brandgefährlich. Vor einigen Jahren war er Investment-Banker gewesen. Die Sorte, die es vermochte, die Wahrscheinlichkeit zu verbiegen. Sein Voodoo hatte ihn einst sehr wohlhabend gemacht, bis die Wahrscheinlichkeitskurve irgendwann nach unten ausgeschlagen war. Seitdem hing er mit Ed und Sunja herum. Ed hatte ihn noch niemals einen anderen Anzug tragen sehen, als diesen aquamarinblauen, seine letzte Investition.

Und Sunja… Sie hob den Blick, um zu sehen, wer sich da uneingeladen zu ihnen setzte, und sie erschrak, als sie Ed erkannte. Doch der Schreck hielt nur eine Sekunde an, dann fielen ihre Lider auf Halbmast.

Es war schwer zu sagen, wie alt Sunja war. Der jahrelange Drogenmissbrauch hatte sie vorzeitig altern lassen. Ließ sie aussehen wie fünfzig oder sechzig. Ihr Körper wog fünfunddreißig Kilo. Auf dem Tisch vor ihr lag eine kleine Tüte Pommes, die sie nicht angerührt hatte. Ed wusste nichts über sie, außer, dass sie schon vor Jahren auf Methadon hängengeblieben war.

„Du hast mich vergiftet!“, zischte Ed.

Henrik biss lächelnd in seinen Big Mac, und Sunja wartete gelangweilt ab. Diese Gleichgültigkeit seiner beiden Freunde frustrierte ihn so sehr, dass er am liebsten losgeheult hätte. Er schrie lauthals:

„Du hast mich mit deinem Methadon verhext! Und dann habt ihr mich auf die Müllkippe geworfen!“

Er bemerkte, dass ihn die Gäste anstarrten und duckte sich zurück in seinen Stuhl. An einem Tisch links von ihm kicherte ein Jugendlicher hyänenartig.

„Rohypnol“, sagte Sunja.

„Was?“

„Es war Rohypnol, und wir dachten, du wärst tot.“ Sunjas Blick sagte, dass das ja wohl eine ausreichende Entschuldigung war. Ed konnte es einfach nicht glauben.

„Sieh´s mal positiv, Eddie“, sagte Henrik, dessen Zähne voller Big Mac- Soße waren. „Zuerst wollten wir dich dem Drachen vorwerfen.“

Verständnislos blickte Ed zu Sunja. „Was babbelt der da?“

„Er meint, dass wir dich zuerst zur Abfallverbrennungsanlage bringen wollten.“ Sunja beugte sich dichter zu Ed. Wie eine Verschwörerin senkte sie die Stimme: „Um die Leiche zu beseitigen, capiche?“

„Ach“, sagte Ed. „Dann hab´ ich ja nochmal Glück gehabt.“ Er lehnte sich zurück, weil er Sunjas Atem nicht ertrug. Langsam ging ihm auch das Adrenalin aus.

„Ist wohl nicht so einfach wie im Film, was? Ihr wart zu blöd, auf´s Gelände zu gelangen.“

Sunja und Henrik wechselten einen vielsagenden Blick. Ed überlegte, wie lange er mit diesen Sticheleien Genugtuung aus der Dummheit dieser beiden ziehen konnte. Ein paar Tage lang bestimmt. Das würde seine Rache werden.

Ein Magen knurrte. Ed, Sunja und Henrik sahen sich abwechselnd an, bis Ed erkannte, dass es sein eigener Magen war. Er hatte tierischen Hunger.

Er beugte sich über die Stuhllehne und erspähte einen Angestellten des McDonald´s, der gerade einen Tisch sauberwischte.

„He, Chef!“

Der Angestellte drehte sich herum, und Ed sagte: „Mach mir doch mal so einen ähh… so einen Big Mac. Und tu ein bisschen Zwiebelchen oben drauf.“ Um dem Angestellten zu verdeutlichen, was er meinte, bewegte er die Finger, als ob er von oben herab etwas würzen würde.

„Sure, man“, sagte der Angestellte mit einer überraschend tiefen Barry-White- Stimme, „wait here. I´ll be right back.“ Dann drehte er sich wieder um und setzte seine Arbeit fort.

Ed wandte sich wieder seinen verräterischen Freunden zu.

„Wo ist mein Auto?“, fragte er.

Henrik klopfte seine Erheiterung auf den Tisch. „Deswegen machst du dir Sorgen! Ed, alte Kanaille!“ Er leckte sich die Soße vom Daumen. „Deiner Müllkutsche geht’s gut. Steht direkt hinter´m Bahnhof.“

„Im Halteverbot?“

„Ich weiß nicht. War da ein Halteverbotsschild?“ Die Frage war an Sunja gerichtet. Die zuckte nur die knochigen Schultern.

„Mach keine Scherze mit mir“, quiekte Ed. „Das ist nichts worüber man Scherze macht! Ihr versteht die Magie nicht! Ihr habt meine Brieftasche gestohlen! Ich musste schwarzfahren!“

Henrik gluckste in sich hinein, aber seine Augen blieben eiskalt. Sie sagten Ed, dass er es lieber nicht zu weit treiben sollte.

Um der Situation die Spannung zu nehmen, erklärte Ed schnell: „Ich lebe seit zehn Jahren in einem unregistrierten Fahrzeug. Versteht ihr das nicht? Ich bin unsichtbar, solange ihr kein Schindluder mit mir treibt!“

Sunja schob mit dem Zeigefinger ihre Pommes über den Tisch. Tatsächlich schien es, als hätte sie einen Anflug von Reue.

„Geht´s in eure Köpfe rein, dass wir uns nur über die blinden Flecken dieser Stadt bewegen können? Ihr habt den Bann gebrochen, und deswegen haben sie jetzt die Deponie auf dem Naxos-Gelände entdeckt.“

Henrik schüttelte den Kopf, hatte aber kein Argument, das er hervorbringen konnte.

„Ihr braucht mich“, sagte Ed.

„Ich brauche niemanden!“, konterte Sunja.

„Ach, leckt mich doch!“ Ed sprang von seinem Stuhl auf. Wieso vergeudete er seine Zeit mit diesen beiden Idioten, wenn er schnellstens sein Auto holen sollte? Murmelnd und fluchend verließ er den McDonald´s.

„Warte, Mann“, rief Henrik. Er kam ihm hinterhergelaufen. „Ich hab dir doch gar nicht gesagt, wo die Kiste steht.“

„Wo?“

Henrik deutete auf den westlichen Ausgang der Bahnhofshalle. „Weißt du, wo dieser türkische Kleinkramladen ist?“

Klar wusste er das. Er ließ Henrik stehen und lief los. Hinter ihm bemühte sich Sunja, auf ihren kaputten Füßen Schritt zu halten.

„Ey, ich muss zum Arzt“, rief sie.

Ed blieb stehen und rief quer durch die Menschenmenge: „Jetzt kommt schon! Die schleppen mir den Wagen ab!“ Er lief ein Stück, blickte zurück, lief wieder ein Stück…

Draußen auf der Straße schafften Henrik und Sunja, Ed einzuholen. Aber nur deshalb, weil er noch nicht davongefahren war. Er stand vor seinem alten, orangefarbenen Müllwagen und kratzte sich am struppigen Kopf.

„Da ist kein Halteverbot“, sagte er.

„Ey, Ed, fahr mich zum Arzt“, jammerte Sunja. „Mir geh´n die Füße kaputt.“

Er hörte nicht auf sie. Er lief einmal um seinen Müllwagen herum und begutachtete ihn als würde er ihn mieten wollen. Als er wieder zurückkam strahlte sein Gesicht. Vorne fehlten ihm drei Zähne.

„Verdammt, hab ich ein Schwein! Alles pikobello.“

„Schön für dich“, sagte Henrik. „Jetzt lass uns zum Arzt fahren. Die Alte jammert mir´n Ohr ab.“

„Ich geh´ gleich die Wände hoch!“, jammerte Sunja.

„Das bezweifle ich“, sagte Henrik. „Also, was is´? Fahren wir, oder was?“

Ein Seufzen. Was sollte er schon tun? Der Magie der Gruppe konnte man sich nicht entziehen.

„Wer hat die Schlüssel?“, fragte Ed.

Bildquelle: (c) DA

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