Novelle

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Julius und das Neutralino

Von Angelika Pauly.

„Na, gibt es was Neues? Hast du was erfunden oder entdeckt?“, Bert, der Schreiberling hockte mit übereinandergeschlagenen Beinen auf Julius’ Labortisch und sah seinen Freund erwartungsvoll an. Julius, Physiker, immer knapp am Nobelpreis vorbei experimentierend, sah ihn über den Rand seiner Arbeitsbrille hinweg an und flüsterte: „Und wie. Eine Sensation, das kann ich dir sagen!“

„Eine Sensation?“, staunte Bert, dem an Julius’ Forschungen in der letzten Zeit nichts Besonderes aufgefallen war.

„Ja, ich habe ein Neutralino“, Julius blickte verschwörerisch um sich.

„Du hast ein Neutralino gemessen?“, fragte Bert nach und versuchte, zu verstehen.

„Nicht gemessen, gefangen!“, trumpfte der Physiker auf.

„Gefangen?“

„Ja!“

„Ein Neutralino?“

„Ein Neutralino!“

„Wo!“

„In einer Zigarrenschachtel.“

„In einer Zigarrenschachtel?“

„Ja.“

„Ein Neutralino?“

„Ein Neutralino, ja.“

„Will ich sehen“, Bert kugelrunde Augen fielen bald aus seinem Kopf.

Julius bückte sich und holte aus einem Fach unter seinem Labortisch eine – ja, tatsächlich! – Zigarrenschachtel hervor, aus Holz, mit bunten Aufklebern. Er öffnete sie und hielt sie dem Journalisten hin: „Hier, siehst du?“

„Ich sehe nichts“, meinte Bert, sehr konzentriert in die Schachtel schauend.

„Kannst du ja auch nicht. Ein Neutralino ist schwarze Materie und wechselwirkt nicht mit Licht“, erklärte Julius.

„Julius!“, rief Bert. „Ich gehe jetzt und wenn ich morgen wiederkomme, will ich keine Zigarrenschachtel mehr in deinem Labor sehen!“ Er sprang vom Tisch und eilte zur Tür, mit einem Klack fiel sie ins Schloss.

Julius schüttelte den Kopf, blickte lächelnd in die Schachtel, schloss diese und stopfte sie wieder in das Fach.

Aber Julius! Du hast die Schachtel nicht richtig verschlossen! Ein kleiner Spalt blieb offen und ein winziges Neutralino lugte neugierig hindurch.

Der Physiker begab sich zur Ruhe und es wurde still im Raum.

Wirklich?

Nein!

Das winzigkleine Neutralino zwängte sich durch den kleine Spalt hinaus und schwebte durch den Raum … unsichtbar und doch da …

Am nächsten Morgen spürte Julius sofort, dass etwas nicht stimmte. Eine leise Vibration, als er seine Brille auf einen Labortisch legte, ein kaum hörbares Summen beim Schreiben einer Notiz, ein winziges Blinken, als er versonnen aus dem Fenster schaute. Etwas war anders, Physiker spüren das und Julius war ein Physiker – und was für einer! Und was machen Physiker, wenn ihnen etwas merkwürdig erscheint? Sie messen. Und Julius maß … das Licht im Raum, die Lautstärke und mit einem gerade neu erfundenem Gerät die Stärke der Vibration gegenüber der Aktivität der Sonne und dem Erdkern (er hoffte sehr, für diese Entwicklung den Nobelpreis zu bekommen) und endlich sich selber. Tja, die Ergebnisse waren mau, sehr mau, im Grunde gab es keine – alles war wie immer. Das halbe Genie kratze sich am Kopf, als Bert die Tür aufriss und mit einem „Hallöchen, wie haben der Herr geschlafen?“ und einem Tablett voll mit frischem Gebäck in den Raum stürmte.

Julius schaute nicht auf, sondern versonnen und kopfschüttelnd auf seine Apparate.

„Was ist los? Stimmt was nicht?“, Bert stellte das Tablett auf einen Labortisch und ging in das Nebenzimmer, um die Kaffeemaschinen anzuwerfen.

„Richtig, hier ist irgendetwas nicht in Ordnung. Ich spüre es, kann es aber nicht nachweisen“, war Julius’ Antwort und der Physiker schaute im Raum umher, als suche er mit seinen Augen nach dem Grund. Konnte man ihn denn sehen? Ach, Julius …

„Vielleicht hat das was mit dem Neutralino von gestern zu tun“, lachte Bert, schlug sich dann aber auf den Mund, denn ihm fiel ein, wie er am vergangenen Tag dagegen gewettert hatte – auch Journalisten werden vergesslich, wie man sieht.

„Das Neutralino!“, rief Julius. „Natürlich, das verändert hier die Verhältnisse im Raum“, und suchte nach der Zigarrenschachtel, zog sie hervor, öffnete seinen Mund und schloss ihn gleich wieder.

„Offen“, murmelte er.

„Weg“, jammerte er dann.

„Was ist weg?“, rief Bert aus dem Nebenzimmer.

„Das Neutralino“, Julius’ Stimme hatte eindeutig eine Tendenz zum – sagen wir – heulen.

„Hä?“, Bert vergaß Studium und Eloquenz.

„Wer?“, fügte er hinzu und sah der gluckernden Kaffeemaschine zu. Solange er hier nebenan war, war er sicher vor den Merkwürdigkeiten seines Freundes … so hoffte er. Leider vergebens, denn Julius stürmte herein und hielt ihm die geöffnete und leider leere Zigarrenschachtel unter die Nase.

„Und woher weißt du, dass sie leer ist?“, Bert schaute hinein, drehte und schüttelte das Holzkästchen.

„Dummkopf! Weil ich nichts sehe“, antwortete der Physiker missbilligend.

„Ja, aber …“

„Nichts, ja aber, es ist weg, futsch, fort. Was soll ich nur machen?“

„Ein neues fangen?“

„Wie denn?“

„Auf dem gleichen Wege, wie du das erste gefangen hast.“

„Das geht aber nicht.“

„Wieso nicht?“

„Nun“, Julius hustete, klopfte sich selber auf den Rücken und wandte diesen dann seinem Freund zu.

„Nun?“, fragte Bert, ach ja, er konnte so gnadenlos sein. Packte Julius an den Schultern und drehte ihn zu sich um.

„Weil …“

„Weil?“

„Es ist mir halt zugeflogen?“

„Zugeflogen? Wie kann einem denn ein Neutralino zufliegen?“

„Geht schon“, Julius sah ein wenig verlegen aus.

„Ja, wie denn? Erklär mir bitte mal, wie dir dieses Dings zufliegen konnte. Du kannst es doch nicht sehen, wie geht das also bitte?“, Bert setzte seinen energischen Blick auf.

„Also das war so“, stotterte Julius, „ich stand an meinem Lieblingslabortisch, dem kleinen grünen.“

„Ja, den kenne ich“, Bert runzelte ungeduldig die Stirn und Julius beeilte sich, fortzufahren: „Ich stand also da und …“

„… dachte nach?“, schlug Bert vor. Nun, war er im Raten nicht sonderlich gut, also korrigierte sein Freund: „… und wartete.“

„Wartete?“

„Auf ein Neutralino.“

„Wieso um alles in der Welt …“

„Es gibt sie überall, auch hier bei uns“, Julius’ Stimme überschlag sich fast. „Wirklich!“

„Hm, okay, und dann?“

„Weil nichts passierte, fiel mir die Zigarrenschachtel ein. Ich dachte, wenn ich eines sehe, kann ich es hineinstopfen.“

„Erstens, will ich das Wort ‚Zigarrenschachtel’ nie wieder hören und zweitens, kannst du dieses Dings doch gar nicht sehen“, eine verzweifelte Journalistenstimme drang durch den Raum.

„Indirekt sehen, nachweisen, meine ich, messen und so. Es war aber keines da, bis etwas um mich herumschwirrte, leise summte und ein wenig blinkte.“

„Blinkte?“

„Blinkte. Oder leuchtete, wenn du willst.“

Bert räusperte sich, legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes und sagte mit sanfter Stimme: „Julius, weißt du, was ich glaube? Dir ist kein Neutralino, sondern ein Glühwürmchen zugeflogen.“

Julius begann zu schwitzen und rang leicht nach Atem. Bert führte den Erschöpften zu einem Stuhl und reichte ihm Kaffee und Kuchen. Nach ein paar Stunden hatte sich der Physiker erholt und Bert verabschiedete sich in seine Redaktion.

Unser halbes Genie blieb allein zurück.

Wirklich?

Nein, nicht ganz.

Ein winziges Neutralino, das in die Freiheit entkommen war, schwebte durch den Raum, summte und vibrierte und blinkte ein wenig und freute sich diebisch darüber, dass die ach so klugen Menschen nicht im Traum daran dachten, dass dunkle Materie durchaus blinken kann. Wie das sein kann? Keine Ahnung, ich bin nur eine Schriftstellerin, keine Physikerin … warten wir einfach, bis Julius dieses entdeckt hat und erklären kann.

Bildquelle: (c) DA

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