Novelle

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Seltsamkeitsforschung

Von Simon Gerhol.

Herr P., ein verzweifelter Schriftsteller, hat auf dem Rückweg von eine Buchmesse einen Unfall und kommt mit dem Kopf unterm Arm am Eingang der Hölle an, wo ihn Goethe in Empfang nimmt. Dieser will Herrn P. mit entsprechender Botschaft ins Diesseits zurückzuschmuggeln und übergibt ihn am Fuße des Läuterungsbergs an Beatrice Gudrun Ensslin.

Da die ehemalige RAF Terroristin sich nicht frei bewegen kann, verkleiden sich beide: Sie erklimmen als Bär und Fee den Läuterungsberg, der von Bierzelten überwuchert ist, in denen Literaten und Politiker feiern. Sie treffen auf Siegmund Freud und erforschen sich in einer Analyse.

Gudrun und Herr P. gehen schweigend durch eine Tür. Erstaunt bleiben sie stehen, finden sich in einer durch Sichtschutzschirme abgetrennt psychoanalytischen Praxis. Gudrun wirft Herrn P. vor, er wisse ja, Gedachtes nehme im Jenseits eventuell Form an. Er sei bereits länger hier und solle vorsichtig denken. Währendessen eilt schon Sigmund Freud auf sie zu und geleitet sie freundlich bestimmt zur Couch.

»Glauben sie wirklich, der Kommunismus kenne kein Privateigentum? Tun sie so blöd oder sind sie geistig derangiert?« Gudrun kontert, die Psychoanalyse sei nur bürgerlicher Abfuck, um Abhängigkeiten zu schaffen.

G. Warum müssen Vulgärökonomen immer Möchtegern – Vulgärbürger finden, die sie ausbeuten?

P. greift schlichtend ein und lenkt den Analysten ab, indem er ihm sein Kostüm in die Hand drückt. Als er er ihm den Bärenkopf gibt, fragt er:

»Was können sie mir darüber sagen?« Einladend deutet der Gelehrte auf die Liege, Herr. P. legt sich hin. Gudrun hinterher, während sie ihr Feenkostüm dem Doktor vor die Füße knallt. Der lächelt sanft, aber die Geste ist eindeutig: Er möchte auch den Feenstab haben. Dabei blickt Sigmund skeptisch auf das Haupt des Tieres, beginnt auf wienerisch:

»Aha! Ich denke, ich kann bei Ihnen ein Problem konstatieren.« Gudrun schimpft, will Freud erschießen. P. nimmt und stopft kurzerhand das Fell der Maske über die Mündung der MP. Er bittet sie flehentlich mit Händeklopfen auf der Couch Platz zu nehmen. Sigmund kassiert nun beide Fetische endgültig ein und attestiert:

»Aha! Sie ist also ihr Beschwernis!« Gudrun kniet nieder, öffnet Herrn P. die Hose.

Freud fragt irritiert nach P.’s Elternhaus. Gudrun betätigt sich mit dem Mund, reitet schließlich auf dem liegenden P.

G. : Komm! Wir gehen, jetzt komm halt!

P. : So schnell bin ich nicht.

Er unterhält ich derweil mit dem Doktor.

P.: Lesen ist Urlaub vom Selbst, vom Über-Ich, was alter Knabe? Warum bist du denn hier?

S.: Habe meine Literaturpreise meist herabgewürdigt, kaum geschätzt, da sie meine wissenschaftliche Leistung in den Hintergrund drängten, meinte ich jedenfalls.

Von den Geräuschen des Geschlechtsakts unterbrochen fährt er abgehackt fort:

S.: Das Werk ist stets eine … Kompromissbildung aus Fiktion und Abwehr der Zensurschranke, immer … narzisstische Therapie, voll von Projektionen, Interjektionen.

Herr P. stöhnt »Internalisiiiiiierungen!«

S.: Genau! Der Rezeptionshintergrund des imaginären Lebens bildet sich aus denselben Verdrängungen des Autors: orale, phallische, anale Fantasien. Literatur dient der Solidarisierung zwischen Rezipienten und Schaffenden als Ventil der Frustration unerfüllter Wünsche. Jede Dichtung ist der verzweifelte Versuch mit dem Bewusstsein anderer in Verbindung zu treten, um Solidarität für jene Zensurverletzungen der Einbildung zu bekommen.

P. keucht: Übertragungen und Gegenübertragungen müssen aber verschoben oder verdichtet werden, sonst ist es nur ein Bericht.

S. Wie ich schon in der Traumdeutung sagte …

Herr P. stöhnt laut, länger anhaltend, er hat einen Orgasmus. G. steigt von ihm herunter und zerrt ihn hoch, er stolpert umher beim Hoseschließen. Bärenkostüm samt Kopf bleiben unter Freuds Stuhl. G. stößt ihn voran, während ihr Sperma aus dem Mund tropft.

G.: Du willst doch durch dein Geschreibsel nur gekränkten Narzissmus heilen!

P.: Macht das nicht jeder Künstler?

G.: Stimmt, jeder ein Verbrecher an seinen Ängsten! Ist ja die orale Fixierung der Sprache kaum zu übersehen: Hast deinen Wunsch einen geblasen zu bekommen zulange unterdrückt, was?

Sie wischt sich die Lippen.

P.: Kompensation von Allmachtsfantasien? Ja! Orale Phase nicht überwunden? Nein! Aber das soll ein jeder für sich selbst beantworten.

G.: Was bietest du denn mit diesem Text für Identifikationsmöglichkeiten, hä?

P.: Links und rechts eben!

G.: Wenn’s mehr wären, wär’ der Erfolg größer, woisch?

Der Lärm der feiernden Zecher hinter den Stoffbahnen dringt intensiver herein, gegrölte nationalistische Lieder, Gudrun verzieht mürrisch das Gesicht.

P.: Lieber verkannt als bekannt! Der gemeinsame, unbewusste Konflikt in Leser und Autor muss ja nicht über das Angebot der Übereinstimmungen eine literarische Anerkennung erzwingen, oder?

G.: Idiot! Nach Lacan ist Sprechen und Schreiben sowieso eine Fehlleistung: Wir können nie genau sagen, was wir meinen …

P. (unterbricht genervt): … und sind immer da, wo wir nichts denken, klar! Wozu dann das alles?

G. (schwäbisch, Sigmund horcht auf, erhebt sich und fasst sie sanft an den Schultern.): Woher soll ich das wissen? Heute werden die Verhältnisse und Befindlichkeiten freiwillig in sogenannten ›sozialen‹ Medien mitgeteilt. Über dies Machwerk haben früher die Stasi und der nazidurchsetzte BND mühsam Akten zusammengetragen. Wann gefurzt wurde und warum. Heut’ erfahred’ ’se’s freiwillig!

P.: Warum sprichst du eigentlich nur manchmal schwäbischen Dialekt? (Sigmund bugsiert sie Richtung Couch.)

G.: Willsch wohl ablenka? Ha! Jetz hann i mr soviel Mühe gebba uond du kommsch mr jetzt so? Kommd mr bekannd vor! Woisch, dess isch echt bled! Lass ons zom streita uffhöra, den mr liebr ficka odr? Kemm her!

Gudrun macht sich von Freud los und will Herrn P. zu Boden drücken, doch der Doktor lacht nur:

»Hier kommt ihr nicht raus, nicht voran, ohne analysiert zu sein.« Eine unsichtbare Blaskapelle spielt einen Tusch, um dann mit einem Marsch fortzusetzen. Wilhelm Reich irrt durchs Zimmer, murmelt vor sich hin: »Alles nur sexuelle Frustration …«, kopfschüttelnd geht er weiter.

P.: Also?

G.: Nicht von ihm! (Sie zeigt mir Abscheu auf den Arzt).

P.: Das Therapievögeln vorher hat gut getan. Lass es und nochmals versuchen. Zuviel darf’s aber nicht werden. Wenn ich an früher zurückdenke, als auf dem Kalvarienberg die Zuschussverlagslektoren die Nonnen vergewaltigt haben …

G.: Nur um milder urteilen zu können. Verbale Gewalt geheilt durch Koitus. Komm wir ficken schön, schön im Takt zu Musik!

P.: Du verdrängst da was!

Gudrun rekelt sich verführerisch auf der Couch, P. fängt an sie zu streicheln, während er weiterspricht: »Du solltest dich wirklich einer psychoanalytischen Anamnese unterziehen, das kann dir nur helfen! Das ist auch ein bewährtes Mittel, um seine Romanfiguren besser kennenzulernen. Echt, ich hab’ ’ne Karteikarte über dich!«

G.: (Stöhnt) Moinsch?

P.: Lass es uns versuchen.

Freud nimmt daneben Platz und hört neigt den Kopf zu dem Paar. Herr P. setzt fort sie zu fragen, derweil er sich an ihr zu schaffen machen, sie antwortet stöhnend:

Wie heißen sie?

Sind wir jetzt beim ›Sie‹?.

Wie heißt du?

Gudrun, das weißt du doch.

Und weiter?

Ensslin, mit zwei ›S‹, wie ›SS‹. (Sie ächzt laut, als P. ihr einen Finger der linken Hand einführt. Er nimmt sein Büchlein und macht sich Notizen mit der Rechten. Sobald er aufhört, beginnt Gudrun sich selbst zu helfen, bis P. sie wieder ablöst.)

Geschlecht offensichtlich weiblich, Alter?

Siebenundreißig, als …

Wie geht es ihnen gerade?

Ziemlich tot.

Seit wann geht es ihnen so und wann hat es angefangen? Was ist damals passiert?

Ich wurde in Stammheim 1977 ermordet, aber ehrlich unter uns: Ich hab’s nicht mehr ausgehalten.

Nehmen sie Medikamente oder Drogen?

Immer wenn ich was kriegen kann, aber eigentlich bin ich clean.

Sind schon einmal straffällig geworden?

Hihi, das ist ein guter Witz!

Sind in Ihrer Familie psychische Störungen aufgetreten?

Bei sieben Kindern eines evangelischen Pastors? Das betrachte ich als rhetorische Frage.

Fühlen sie sich beeinträchtigt durch ihre Arbeit, ihre Familie oder den Freundeskreis, ihren Körper?

Unbefriedigt, ja, Reich hatte recht, eingeschränkt durch die Gesellschaft, klar!

Wie gehen sie mit Krankheiten um?

Ein Indianer kennt kein Schmerz, eine Indianerin schon.

Wie schöpfen sie Kraft, wenn es Ihnen schlecht geht?

Aus unserem Kampf!

Bei wem sind sie aufgewachsen?

Na, bei meinen Eltern.

Wann sind ihre Eltern geboren?

1909

Wie geht es ihren Eltern gesundheitlich?

Witzbold, auch tot!

Steht eben auf dem Anamnesebogen. Welchen Beruf hatte ihr Vater?

Pastor.

Wie war der Erziehungsstil der Eltern?

Liebevoll aber streng.

War ihre Kindheit glücklich?

Na gut … ja.

Wie viele Geschwister haben sie, welches Alter?

Sagte ich doch schon, Idiot! Sechs. Liege irgendwo in der Mitte.

Was machen ihre Geschwister und wie ist ihr Verhältnis zu ihnen?

Haha, Bücher über mich schreiben, sich um Versöhnung bemühen.

Wie war die Beziehung zu ihren Geschwistern früher?

Wer wagt, gewinnt, bei Sieben muss man sich durchsetzen.

An was aus Ihrer Kindheit können Sie sich besonders erinnern?

Geht dich gar nichts an.

Was haben sie beruflich gelernt?

Volksschullehrerin (sie atmet lauter, nähert sich dem Orgasmus)

Wie sehen sie Zusammenhänge zu heute?

Hat sich nix geändert, darum war unser Kampf aber nicht falsch: Ohne ihn wäre ein Bewusststein für den faschistischen Staat nicht so geschärft.

Ich meinte die Familie. Wie ist ihr Liebesleben, die sexuelle Ausrichtung?

Geht so, Hauptsache ab-und zu ficken, bi, egal.

Haben sie Kinder?

Einen Sohn, dessen Name nicht genannt werden will.

Sind Sie in ihrer Beziehung glücklich?

Glücklich gibt’s nicht.

Fühlen Sie sich befriedigt?

Hängt von dir ab: ab und zu. (Sie schreit laut auf, zuckt am ganzen Körper, schüttelt sich, setzt sich auf, reißt P.’s Finger aus sich, schlürft ihn ab und küsst dann P. auf den Mund.)

Wie fühlen sie sich in ihrem Bekannten- und Freundeskreis?

Den gibt’s nimmer, aber früher: Ja, war eben alles durch den Kampf geprägt, woisch?

Wie würden sie sich politisch einordnen?

Ich lach’ mich tot.

Was sind ihre zentralen Werte im Leben?

Kommunismus.

Wofür lohnt es sich, für sie zu leben?

Kommunismus … und Sex.

Wofür lohnt es sich, für sie zu sterben?

Eine bessere Welt.

Wie reagieren Sie unter Zeitdruck?

Cool.

Die RAF-Terroristin zieht sich wieder an.

P.: Geht’s dir jetzt besser?

G.: Ja, der Orgasmus hat gut getan, echt fein! Das Gelaber kannst’ dir sonst wo hin stecken.

P.: Ich fand’s ganz interessant, dass du gerne als Indianerin weinen möchtest. Und dass du es zugegeben hast! Weiss’te, ›Die wirksamste Anpassung des Menschen an die Umwelt besteht darin, dass er bereut.‹

G. ›, dass der Organismus stirbt,‹ hat der Köstler gesagt, du Plagiatmeisterlehrling, keine Zeit mehr, komm!

Nach der Praxis öffnet sich ihnen ein verschwenderischer Wellnessbereich, allenthalben mit Fleischbergen besetzte Liegen, Konsum. Oftmals laufen die Drinks aus den gefüllten Mündern in die Bademäntel, Essensreste bevölkern den Boden. An den Marionettenfäden werden die Erholungssüchtigen abgefüllt. Sie eilen durch einen der engen Lieferantenkorridore, Exbundestagsabgeordnete schuften schweißgebadet, um die Bestellungen zu liefern. Die Zwei drängen sich hindurch und taumeln ins Freie. Das Licht ist nun so gleißend, dass sie die Augen Teilwiese schließen müssen und sich halb blind vorwärts tasten.

Bildquelle: (c) SG

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