Novelle

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Sirene im Vogelkäfig

Von Edgar Seibel.

,,Du solltest echt mal deine Lauscher aufsperren.”, maulte die Mutter dem Vater, ihrem Ehemann am Esstisch entgegen. Sie erregt anstarrend suchte er nach einer ausgefallenen Konteraktion, aus denen ihre Beziehung gestrickt war, aus Wortkämpfen, Machtspielen, obgleich sie es selbst nicht erkannten. ,,Dann sag doch, was du gehört hast! Hast du endlich mal was Neues aufgeschnappt?” ,,Oh, manchmal könnte ich dich …”, erwiderte sie zähnefletschend, ihn dabei allerdings lüsternd anschauend, und fortsetzend: ,,Unten am Hafen wird eine Sirene verkauft.” Seine Augen schienen angespannt während sie sprach, doch nachdem er verstanden hatte was sie da meinte, ließ er seine faltige Visage wieder in die kalte Suppenschüssel stürzen. ,,Was ist denn los? Bist du etwa müde?” ,,Was du für Vorstellungen hast! Ich weiß davon, von diesem Verkauf! Das ist nicht besonderes, kapiert? Ich kapier gar nicht, was an irgend so einer Behinderten so besonders sein soll! Das ist nichts besonderes, wann kapieren die das endlich!” Die Frau: ,,Mal ganz ruhig, du bist heute wieder so emotional. So verletzlich.” Gleich darauf fing sie sich einen Schlag ins Gesicht, sodass man alle fünf Finger darin abzählen konnte. Und daraufhin sprang sie ihn an, und es kam zum Geschlechtsakt. Weil man dem Mann auf der Arbeit später sagte, niemand habe es bisweilen geschafft, das Fabelwesen zu kaufen, stand er am Wochendtag in aller Früh am Hafen. Die aus der Ferne zurückhaltend wirkenden Jungen neben dem seltenen Geschöpf in einem Käfig, überraschten den Mann noch bevor er sie überrumpeln konnte mit seiner Aufdringlichkeit. Nah an den Kerl getreten, ihn von allen Seiten beschnüffelt; von oben bis unten, von vorn wie von hinten, durchbohrend seine Augen mit ihren, bestanden die Burschen anstatt auf ein klassisches Gefeilsche auf verrückte drei Fragen: ,,Beenden sie bitte den Satz: Schwarzer Kaviar gehört …” Der Mann nach nicht einmal einer Sekunde: ,,den besten!” ,,Wie man zu Erfolg gelangt ist …” ,,Unwichtig, rief der Mann ungeduldig, ,,Was zählt ist der Erfolg allein.” ,,Gut. Danke. Dann hier die letzte Frage: ,,Glauben sie, dass ein Dünner einem Dicken unterlegen ist?” ,,Was soll das denn? Natürlich! Der ist eben schwächlicher.” ,,Danke. Und tut uns leid. Sie sind nicht der, den wir suchen.”

Der Mann durfte nicht versagen, nicht jetzt, wo man ihn doch herausgefordert hat, ihn so tief erniedrigt hat. Schließlich hat er das Beste verdient. Denn wer bemühte sich schon so wie er es tat? Wer auf dieser Welt hat es schon so schwer gehabt wie er? Selbstverständlich niemand. Außer ihm. Da Dickschädel, verzog er sich, doch wartete ganz in der Nähe bis die beiden Burschen wegsahen oder sich endlich verzogen, um anzugreifen. Obwohl nicht der jüngste war er zunächst blitzartig zu seiner Frau gerannt. Zeigte sich anschließend am Hafen mal als Fischer, mal als Penner, ja mal als Restaurantgast, alles in dazugehöriger Kleidung, wie ein Chamäleonmensch unerkannt vor den Nasen der Händler und ihres gefährdeten Mädchens. Da verschluckte sich das alte Chamäleon beim Vertilgen des Hechts in der mittlerweile kalten Hechtssuppe, und rannte hinaus aus dem Restaurant wieder zu ihnen. Eine dritte Person war erschienen; ein steinalter Seemann, der die Jungs zurück ins Schiff zu gehen bat, sie damit als Verkäufer am Stand ablöste. Bevor auch nur ein anderer eifriger Kunde sich dem Seemann an den dürren Hals werfen konnte, stand unser unnachgiebiges Chamäleon direkt vor seiner krummen Nase, und zückte schon das Portemonnaie. ,,Kommen Sie, sie sind ein gestandener Mann …”, brabbelte er während des Zählens seiner Scheine. ,, … haben Enkelkinder … Führen ein raues Seemännerleben.” Und drückte ihm ohne Aufforderung die ausgewählte Summe in die faltigen Pranken. Die kaum mehr sichtbaren Augen des faltigen Seemanns, starrten ihn an; die kaum mehr erkennbaren Lippen unter dem weißen, zotteligen Bart murmelten: ,,Das Leben auf See kann einen blind machen. Vor allem kann es so manch einen hartherzig machen.” Aber das hörte das Chamäleon nicht, hasste es doch zusammenhangloses Geschwafel, Hauptsache die alten Hände griffen nach seinen Scheinen. Es war unserem Mann nicht in die Wiege gelegt, zwischen Zeilen zu lesen. ,,Verkauft!” rief der Seemann unverhofft auf. Klar, das hörte auch unser Dickkopf, und ging gleich zum Käfig. ,,Wusst’ ich’s doch! Wär’ ich nicht so ein guter Verdiener, wo wär’ ich da bloß?”

Den Käfig mit der Sirene mit voller Absicht an der Hauptstraße entlang gezogen, war er wieder zu Hause angekommen. Obwohl sich die listigen, kleinen Augen der Ehefrau zu Beginn vor Faszination erweitert hatten, dabei ungeachtet der Tatsache, dass sie über das Geschöpf bereits Bescheid wusste, beäugelte sie es im Beisein ihres Gatten schweigsam und selbstverständlich höchst kritisch:

,,Sieh sie dir an. Spindeldürr. Hat wahrscheinlich gesundheitliche Probleme. Daher die blasse Hautfarbe wie die einer Leiche … Über die Verkrüppelungen wollen wir mal gar nicht erst reden. Fürchterlich. Hoffentlich schleppt es uns keine Parasiten an!”

In Wirklichkeit trug die Sirene welliges, schwarzes Haar, die betont wurden von großen, schwarzen Augen mit langen Wimpern und großen, mandelförmigen Lidern versehen, die der jungen Frau einen sinnlichen Schlafzimmerblick gaben. Der bis knapp unterhalb des Bauchnabels gehende menschliche Körper war gekennzeichnet durch eine schneeweiße Haut. Es ragten die schwarz gefiederten Flügel aus ihrem Rücken. Ebenso war der Unterleib von dunklen Federn übersäht; die Beine die eine Vogels, doch vermittelten auch sie etwas menschlich-weibliches, etwas Graziöses.

Der Mann erzürnt auf das herabwürdigende Geschwafel seiner Frau Bezug nehmend: ,, Du wolltest sie doch!” Sie schwieg, provozierte ihn aber indem sie ihm lächelnd den Rücken zudrehte und mit dem Finger an den Gitterstäben des Käfigs entlang strich. Bevor der Ehemann anzugreifen konnte, fiel ihm auf, dass die Sirene nicht mal gezuckt hatte bei all dem Theater. Die Augen wirkten zwar interessiert, jedoch nicht erschrocken.

Obwohl Null Empathie war es ihm bei ihr aufgefallen. ,,Sie ist so anders.”, murmelte er ungehalten vor sich hin. Die Frau: ,,Klar ist sie das! Sie ist sehr ungewöhnlich.” ,,Sie ist kein Mensch. Sie ist nicht normal. So wie wir.” ,,Ganz genau. Deshalb muss sie sich unbedingt anpassen. So jemand kann das gar nicht allein. Die ist doch in der Lage für sich selbst zu sorgen, so wie die aussieht. Und darum …” Der Mann: ,, … muss sie geführt werden!” Die Frau: ,,Sie muss!”

Und so fütterten sie die Sirene wie ein dummes Vögelchen, gaben ihr Körner, Essensreste, stellten ein Schälchen Wasser in den Käfig, oder schlugen unerwartet gegen das Gitter, wenn es draußen donnerte, sie aber als einzige nicht erschrak.

Doch Sohnemann Lamek, ein eher schweigsamer 17-jähriger Junge, durfte sich der Sirene nicht näheren, da man schließlich ihre menschlichen Brüste deutlich sah. Dem Mädchen etwas überzuziehen, das fiel dem Päärchen nicht in den Sinn, darüber verloren die beiden Menschen keinen Gedanken. Denn war die Erniedrigung anderer, an welcher sie sich innerlich ergötzten, der Sinn ihres Daseins auf Erden. Der einzige Grund aber schien das nicht zu sein.

Eines Nachts schlich sich Lamek dann trotzdem die Treppen vom Dachboden hinunter in die Küche zum Käfig. Von dem Anblick, der sich ihm bot überrumpelt, bewegte er sich zügig ein paar Schritte zurück bis hinter das hölzerne Treppengitter. Und beobachtete sicher im Schutze der Dunkelheit. Unser Chamäleon, sein Vater, massierte die Brüste der Sirene. Da erschallten laute Schritte von ganz nah. Die Mutter im Anflug aus dem Schlafzimmer. Längst rieben sich seine dreckigen Pfoten am unschuldigen Wasserschälchen im Käfig, als die Frau ihm zubrüllte das Vögelchen habe eh genug, er solle sich sofort ins Bett begeben. Der Vater schließlich verschwunden, zog es auch schon sie selbst zu dem gefiederten Mädchen. Die Sirene komplett mit den Augen ausziehend, gab sie ihr mit ihrer Männerhand einen Klaps auf die Wange, und führte diese zu ihren Mund, streichelte über die vollen Lippen. Nachdem der Mutter ein unerwarteter, stöhnender Ton entwichen war, verließ sie endlich mit eilenden Schritten die Küche.

Auf Zehenspitzen traute sich Lamek in die Nähe der Sirene. Bereits vor der Ankunft des außergewöhnlichen Mädchens hat er sich nur selten am Esstisch zu blicken gewagt. Die Tellerchen mit Bechern und Flaschen wurden meist vor seiner Zimmertür abgestellt. Zu oft hatten Zusammenkünfte zu Streitereien geführt. Auch er sollte zu einer Bestie werden. Ein Jammer nur, dass Lameks Geist kräftiger war als sein Leib.

,,Wie merkwürdig. Trotz dieses ganzen Liebäugelns, dieser leicht liebevollen Berührungen meiner Eltern, und auch trotz deines sehr schönen, menschlichen Gesichts und so … sagst du kein einziges Wort.”

Die Mundwinkel der Sirene zuckten ganz leicht, nur für eine unbedeutende Sekunde. Lamek lächelte verlegen. Die Geste war ihm Bestätigung genug.

Es entbrannte ein heftiger Streit am kommenden Morgen. Wie aufgescheuchte Furien hatten sich die Eltern in den Haaren.

Die Mutter: ,,Hast du wieder angestarrt, du Perversling?”

Vater: ,,Fresse! Halt deine Fresse! Ich wollt ihr nur etwas Futter geben!”

Doch die Sirene wandte ihren Blick immer wieder von ihm ab. Diese Hingabe des Gatten machte die Ehefrau noch wütender als sie sowieso innerlich stets war. Nun fühlte sie sich tiefer erniedrigt als je zuvor.

Sie: ,,Jetzt ist dir dieses Flittchen also wichtiger als deine ach so geliebten Kakerlaken?”

Er: ,,Sieh mal an! Auf einmal nimmst du meine Käfersammlung doch wahr?”

Der Sohn meldete sich plötzlich zu Wort: ,,Und plötzlich nennt ihr sie ein ,Flittchen’? Also ist sie für euch doch ein Mensch.” Mit aufgerissenen Augen stürzte der Vater vor Lamek’s Füße, griff an seine Schultern und versuchte ihm Glauben zu machen: ,,Sie ist ein Keulenkäfer! Claviger testaceus! Sie benutzt uns wie er seine Wirtsameisen! Sie betört unsere Sinne mit ihren Psycho-Kräften, und wir tun alles, was sie will!”

Währenddessen stürzte sich die Mutter beinahe Hals über Kopf in den Käfig. Mit Schmollmund redete sie auf die Sirene ein: ,,Sei nicht so gemein und so frech zu uns. Du bist ein so hübsches Ding. Und wenn man so hübsch ist, sollte man auch Liebe geben … Ich bin eine starke Person, und du dagegen zart und süß. Du kannst dich nur mir hingeben. Frauen verstehen sich ja eh besser.” In einer freundlichen, fast schleimenden Stimmlage redete der Vater auf seinen Sohn ein, dessen Mimik diesem jedoch puren Hass verriet. Lamek las zwischen den Zeilen. Die Augen des Jungen übersprangen das Chamäleon, und beobachteten entsetzt die wütende Mutter. Wie ein übergroßes Kind sprang und stampfte sie auf den herumkrabbelnden, aber auch den bereits toten Insekten herum. Denn sein Kostbarstes hatte der Gatte dem Mädchen geben, doch dafür auch gleichzeitig ihre völlige Hingabe einfangen wollen.

,,Wie kannst du mich nur so hart bestrafen?”, flüsterte Lamek’s leise Stimme. Unaufhaltbar wurden alte Erinnerungen, über seine vergangenen, besseren Tage, in ihm wach, an denen ihm seine Mutter beim Bestaunen von Tieren des nahe gelegenen Waldes, freundlich ermahnte, ihnen niemals weh zu tun, sie einfach zu achten. Ja. Irgendwo hielt der Junge an dem einzigen Glauben fest, seine Mutter sei, im Gegensatz zum unsensiblen Vater, der selbst vor den Augen des Sohnes Tiere aufzuspießen gepflegt hatte, etwas wie eine Verbündete. Die letzte Bastion war gefallen.

Da fing ihn die Sirene ein mit einem starren Blick, mit aufgerissenen, dunklen Augäpfeln. Sie verstanden einander. Das Mädchen begann sich zu verformen! Sie zuckte am gesamten Leib; die Haut bildete Schuppen, entwickelte einen grün-metallischen Schimmer, dann wurde sie vollkommen grün, war zu einer geflügelten Schlange mutiert! Der Aufschrei des Ehepaares war groß. ,,Schnell! Töte sie!”, kreischten beide sich gegenseitig zu. Die Schlange schlängelte sich schnell aus dem Käfig, und noch bevor die Frau zu ihrem Tritt ansetzen, oder der Mann mit einem Brecheisen zuschlagen konnte, hatte sich Lamek zum ersten Mal in seinem jungen Leben seine Aggression wirklich zu Nutze gemacht und den großen Vogelkäfig den Zweien vor die Beine geschmettert! Der Lamie die Hintertür geöffnet, floh sie rasch in den Wald.

Lamek eilte ihr nach. Ohne an Zecken, die Hecken oder Haut zerfetzende Dornen zu denken, war der junge Mann ausgebrochen. Am Ende des Waldes angekommen, warteten auf einem offenen, giftgrünen Feld die mutmaßlichen Enkel des Seemanns vom Hafen. Die fliegende Schlange verwandelte sich bis auf ihren Unterleib in das gefiederte Mädchen zurück.

,,Nimm mich mit. Bring mich weg von Unaufrichtigkeit.”

Die Lamie: ,,Das kann ich nicht.”

Lamek: ,,Lass mich von einer besseren Welt wissen!”

Die Lamie: ,,Dann folg mir. Eile mir immer nach. Sei Wasser, wenn sie Luft sind, sei Luft, wenn sie Wasser sind. Sei wie ich. Und sie werden in Flamme und Asche aufgehen.”

Bildquelle: (c) ES

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