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Wahre Bestimmung

Von Anja Justin-Rohrßen.

Ina liebte ihr Ei. Ihr Ei war nicht sehr geräumig, aber es reichten ihr die spartanisch eingerichtete Schlafkammer mit einem schmalen Bett, die Duschkabine, die per Knopfdruck automatisch das Einseifen, Waschen und Abseifen vornahm, und eine kleine Küche, in der sie ein Gericht bestellen konnte und es sofort serviert bekam. Das Herzstück ihres Eies war die Kommandozentrale, in der Ina das Antriebssystem, das Bordrechensystem, das System für die Bahnregelung und das Lebenserhaltungssystem anhand mehrerer Bildschirme, Schalter, Hebel, Knöpfe, per Touchpen oder einfach nur mit ihrer Stimme bediente. Bei Bedarf fütterte Ina das altmodische eiförmige Raumschiff mit gasförmigem Treibstoff, damit sie es auf eine Höchstgeschwindigkeit von 985 Veloc hochpeitschen konnte.

„Der gesuchte Planet namens Erde ist in Sicht, Ankunftszeit in 5 Stunden, 11 Minuten und 27 Sekunden“, informierte die weibliche Computerstimme.

Ina schaute aufgeregt zum Bildschirm: „Gib mir mehr Informationen zu den Bewohnern des Planeten. Wie leben sie? Was sind ihre Gewohnheiten? Wie gehen sie mit ihren Kindern um? Wie sehen ihre Kinder aus? Womit spielen ihre Kinder am liebsten?“

„Mein Arbeitsspeicher reicht für eine Informationssuche nicht aus. Entweder überprüfen meine Systeme die Fahrt zu diesem Planeten oder suchen Forschungsergebnisse zur Erde heraus“, bemerkte die Computeranlage.

„Na, na, na, wer wird denn gleich so weinerlich klingen?“, beruhigte Ina ihr Ei. „Ich werde dir ein schönes Märchen erzählen, während du weiter auf die Erde zufliegst:

Es war einmal eine junge mutige Frau, die mit ihrem Raumschiff durch das Weltall flog. Sie hatte in einem intergalaktischen Krieg ihre Familie und all ihre Freunde verloren und war jetzt auf der Suche nach anderen Lebewesen. Es war ihr größter Wunsch nicht länger allein zu sein …“

Ina versuchte, ihre Augen aufzuhalten, aber immer wieder sackten ihre Augenlider herunter und ihr Kopf nickte von der Müdigkeit, die sie plötzlich ergriffen hatte, auf ihren Brustkorb.

In der Babyklappe in der Goethestraße in Hamburg-Altona lag ein weinendes Neugeborenes. Die Krankenschwester der Nachtschicht wartete vorschriftsmäßig die fünf Minuten ab, in der die Mutter des Neugeborenen die Chance haben sollte, sich unerkannt zu entfernen. Sie drückte auf einen rot leuchtenden Knopf neben der Babyklappe und der Korb mit dem Baby fuhr auf Schienen in den Raum hinein.

„Gut, du kannst aufhören zu weinen, du hast deinen Zielort erreicht. Mein Name ist Ani und ich gehöre zum Pflegepersonal“, informierte die Krankenschwester das Baby, nahm es auf ihren Arm und trug es zu seinem Ei.

„Die Raumtemperatur beträgt 20 Grad Celsius, für ein Neugeborenes die optimale Temperatur, nicht zu warm und nicht zu kalt. Gleich bekommst du auch etwas zu essen. Dein Essen enthält prebiotische Ballaststoffe und langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren in altersgerecht optimierter Form, so wie es die Forschung für Neugeborene rät.“

„Was machst du da?“ Krankenschwester Sabine betrat den Raum. „Du sprichst mit dem Baby, als sei es an Daten und Zahlen interessiert.“

Ani drehte sich vom eiförmigen Kinderbett irritiert zu ihrer Kollegin um: „Ist daran etwas falsch?“

„Na ja, es ist schon ungewöhnlich“, antwortete Sabine. „Die meisten sprechen mit Babys anders als du. Es ist mir schon oft aufgefallen, dass du … Wie soll ich es sagen? Du sprichst immer sehr sachlich mit den Kindern. Auch dein Tonfall ist eher so, als ob du mit einem Erwachsenen, den du nicht gut kennst, sprichst. Sehr distanziert eben.“

Ani drehte sich von dem Tisch, an dem sie gerade die Flasche für das Neugeborene fertig machte, zu Sabine um. „Und? Ist das ein Problem? Was willst du mir damit sagen? Dass ich mich nicht gut genug um die Neugeborenen auf unserer Station kümmere?“

Inas Ei bereitete die Landung auf der Erde vor, indem sie die Tastatur sanft streichelte und dem Zentralcomputer leise und beruhigend Anweisungen gab. „Sei ganz vorsichtig, meine Kleine, nicht, dass du dich verletzt.“

„Die Aussage habe ich nicht verstanden. Was bedeutet, ich könnte mich ‚verletzen‘?“ Der Computer in der Kommandozentrale zeigte auf dem Monitor ein großes Fragezeichen.

Ina schaute irritiert zum Bildschirm und öffnete gerade den Mund, um zu antworten, als plötzlich laut piepsende Einzeltöne vor einer Gefahr warnten.

„In 10 Sekunden kollidieren wir mit einem Gebäude auf dem Planeten Erde“, erklärte die weibliche Computerstimme. „10, 9, 8, 7 …“

„ Wie kann das sein?“, schrie Ina panisch. „Warum alarmierst du mich erst so spät?“

Inas Ei prallte auf ein rotes Backsteinhaus und zerbrach augenblicklich in zwei gleiche Teile. Eine Hälfte des Eies flammte auf und die Hitze brannte ein riesiges Loch in das Dach des Backsteinhauses, Trümmerteile zerbrachen den darunterliegenden Fußboden und fielen in kleinen angebrannten Bröseln in den Raum unterhalb des Dachbodens. Ina versuchte sich in der zweiten Eihälfte an der Armatur ihrer Kommandozentrale festzuhalten, rutschte aber unaufhaltsam von den stark beschädigten Teilen ihres Raumschiffes herunter und landete ebenfalls in dem darunterliegendem Zimmer.

„Was zum Teufel …?“, schrie Ani hysterisch auf.

Ihre Kollegin Sabine lief angsterfüllt, aber nicht ohne zuvor das Neugeborene aus dem Bett zu reißen und es an ihre Brust zu drücken, aus dem Raum.

Ina erhob sich ohne jede Verletzung aus den Trümmern empor, versuchte vergeblich den Staub von ihrer Uniform abzuklopfen. Sie schaute sich in dem staubigen Raum um und entdeckte eine Frau in einer weißen Hose und einem weißen Oberteil. Ina starrte Ani erstaunt an und ging langsam auf sie zu. „Es gibt mich zweimal?“

Kurz bevor sie mit ihrer Nase an die Nase von Ani stieß, blieb sie stehen. Zögernd hob sie ihre Hand und strich mit ihrer Hand über Anis Gesicht, mit der Berührung erstarrte Anis Körper zu Stein. Von ihren Haaren ausgehend fing Ani an zu zerbröckeln. Ihr Gesicht zerfiel zu Staub, ihre Schultern, ihr Brustkorb fielen in kleinen Steinchen herab, ihr Unterleib zerbröselte, die Beine kippten um und zerbrachen in große Steine, die sich nach und nach gleichfalls in Staub auflösten.

Drei Monate später. Ina summte zufrieden vor sich hin und wechselte die Bettwäsche in einem Kinderbett. Sie trug eine weiße Hose und einen weißen Kasack.

„Ani, hast du morgen die Nachtschicht?“, fragte eine Krankenschwester leise, während sie den Raum für die Neugeborenen betrat.

„Ja“, antwortete Ina lächelnd. Sie ging zu einem Bettchen, in dem ein Neugeborenes lag und vor sich hin greinte. Sie beugte sich zum Baby hinunter, summte leise und sprach dann beruhigend auf das Baby ein.

Krankenschwester Sabine beobachtete Ina und das Neugeborene und bemerkte nachdenklich: „Der Absturz dieses merkwürdigen Fluggeräts hatte viel Gutes. Nicht nur, dass wir jetzt frisch renovierte Räume haben, auch du hast dich zum Positiven verändert. Du bist jetzt so liebevoll und umsichtig mit den Neugeborenen.“

Ina lachte leise auf. „Ja, so ist das Leben. Einschneidende Ereignisse können die Menschen verändern.“

Bildquelle: (c) DA

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