Von Anna Noah.
Als die Sanitäter in der Bahnhofsmission eintrafen und die verletzte Candy vorsichtig auf die Trage legten, hielt sie Andrés Hand fest.
„Du bist … voll … okay“, stammelte sie, „du … bist … in … der Lage … die Seele … eines Menschen … zu lieben … nicht das Geschlecht …“ Dann verlor sie das Bewusstsein.
André ließ ihre Hand los und schwor sich, Candy so bald wie möglich im Krankenhaus zu besuchen.
„Was sollte das denn heißen? Kennt sie dich?“, fragte seine Kollegin interessiert.
André zuckte nur mit den Schultern und ging nachdenklich zur Kaffeemaschine. Der Ausschank für Obdachlose startete in fünf Minuten. Bei der Sache war er jedoch nicht. Sein Herz wollte sich lieber mit Candys Worten beschäftigen. Er hatte eine gewisse Ahnung, was sie gemeint haben könnte, der Kopf jedoch sträubte sich noch dagegen. Gleichzeitig erschienen Andrés Ex Sandra und der Sibirier Nikolai vor seinem inneren Auge. Kurz nachdem sie ging, war er in der Bahnhofsmission aufgetaucht. Nikolai hatte körperliche Schmerzen, André seelische. Das verbündete. Er würde den Russen wiedersehen müssen.
Da stand sie
Mit dem Koffer in der Hand
Makellos schön
Bereit zu gehen
Da stand ich
Eine Armlänge hinter ihr
Traurigkeit im Gesicht
Die Seele eines Menschen zu lieben, nicht sein Geschlecht. André schluckte. Die Tragweite dieser Worte drang ihm in jeder Minute klarer ins Bewusstsein. Die Seelen lösten sich in seinen Gedanken von den äußeren Hüllen. Mann, Frau, Transe, egal. Es ging bei Liebe um ganz andere Dinge.
„Aua, heiß!“ Schnell tupfte er mit einem Küchenrollentuch seine Hand ab. Vor lauter Nachdenken hatte er nicht bemerkt, dass der Kaffeebecher bereits übervoll war.
„Nehmichtrotzdem“, nuschelte der Obdachlose und streckte seine dürre Hand aus.
André reichte ihm vorsichtig die heiße Brühe.
Seit Candys Worten erinnerte er sich an Nikolais Blick vor ein paar Tagen in der Bahnhofsmission. Der Blick, der ihm durch und durch gegangen war. Und der Blick, den er bis heute erfolgreich verdrängt hatte. Was faszinierte ihn daran? Vielleicht der Stolz, der in ihm lag. Vielleicht aber auch die Tatsache, dass beide verletzt worden waren oder es war einfach nur Andrés Helfersyndrom, herrje!
André dachte länger über das Gefühl nach, was Nikolai in ihm auslöste. Nein, das war keine Hilfsbereitschaft, es war mehr. Und es ähnelte dem, was er empfand, als er Sandra das erste Mal gesehen hatte. Bedeutete das etwa …?
Sie zögerte
Ich schluckte
Ohne Worte standen wir beide reglos
Irgendwo tropfte ein Wasserhahn einen öden Takt
Mein Mund formte lautlose Worte
Ich strengte mich an, doch kein Laut brach aus mir heraus
Ein Gefühl der Euphorie durchströmte Andrés Körper, als er Nikolai am Tag der offenen Tür im Aufnahmelager auf sich zu schlendern sah.
Endlich standen sie sich gegenüber!
„Warst du zu lange in der Sonne? Du bist so rot …“, scherzte Nikolai und umarmte André vorsichtig.
„Komm, lass uns ein Stück gehen“, lenkte André ab.
Sie stand, die Hand an der Klinke
Hörte sie mich atmen,
bevor sie die Wohnung verließ?
Für immer.
Einen Tag nach Andrés Besuch im Aufnahmelager ging die Tür zur Bahnhofsmission auf und eine normal gekleidete, offensichtlich nicht hilfsbedürftige junge Dame kam herein. „Ich suche einen André“, sagte sie und schaute in die Runde.
„Hallo, das bin ich“, sagte André, der hinter der Kaffeemaschine hantierte, „wie kann ich dir helfen?“
„Candy bat mich, dir das zu geben.“ Die Frau ohne Namen reichte ihm einen Brief, der mit André beschriftet war. Etwas Rundes drückte sich durch den Umschlag.
„Okay … danke. Endlich eine Spur von Candy! Als ich die Krankenhäuser vor zwei Tagen durchtelefonierte, wollte mir niemand etwas über sie sagen.“
Tränen sammelten sich in den Augen der Fremden. „Es ist zu spät, tschüss.“
„Warte mal!“ André legte das Kuvert bei den Kaffeepads ab. „Wo kann ich Candy finden?“
„Friedhof Blumenthal, sie erlag vorige Woche ihren Verletzungen.“ Dann schluchzte die Unbekannte und floh zur Tür hinaus, begleitet von den fragenden Blicken der anderen Missionsmitarbeiter.
André klappte der Unterkiefer herunter. „Was?“
„Ey Mann, pass doch auf!“ Der Obdachlose, dem er gerade einen Kaffee einschenkte, protestierte lautstark, weil er die Tasse überlaufen ließ, ohne es zu merken. Schon wieder.
Auch die mysteriöse Botschaft von Candy war jetzt kaffee-gesprenkelt.
Da stand ich
Eine Armlänge hinter ihr
Traurigkeit in meinem Gesicht
Nach der Schicht saß André zuhause in seiner Küche und öffnete Candys Umschlag. Heraus fiel nur einer ihrer Ohrringe und eine Notiz.
Das Verfahren gegen meine Vergewaltiger läuft. Ich schaffe es wahrscheinlich nicht zurück ins Leben. Sende dir ein Andenken. Vergiss mich nicht.
André rieb sich über die Stirn und wischte nebenbei ein paar Tränen weg. Er konzentrierte sich auf den Schmuck. Kleine aufgefädelte Silberkugeln. Die hatte Candy getragen, als er sie im Rock’n’Roll-Club kennenlernte. Beinahe kam es ihm so vor, als könnte er sie damit zurückbringen. Je länger André darauf starrte, umso plastischer sah er sie kokett vor dem Küchentisch stehen und mit ihrem Hintern wackeln. Das war gefühlt erst gestern gewesen! Den anderen Ohrring hatte sie genau an der Stelle, wo er sich jetzt befand, verloren. In einem Moment, in dem die Leidenschaft kurz aufloderte. Der Moment, bevor André herausgefunden hatte, dass sie transsexuell war.
Er seufzte.
Wie gern hätte er noch einmal mit Candy gesprochen, ihr von Nikolais Seele erzählt.
Alles vorbei.
Für immer.
Die Türklingel riss André unsanft aus seinem Gedankenchaos.
Er öffnete die Wohnungstür, sah Sandra, blinzelte kurz und schlug sie wieder zu. Die fehlte ihm noch!
Sie klopfte daraufhin im wildesten Stakkato. „Mensch André, mach auf! Ich muss mit dir sprechen! Hast du geheult? Wieso sind deine Augen so gerötet?“ Sie klopfte weiter, wie eine Wilde. Wer hatte sie überhaupt ins Haus gelassen?
Andrè hörte den Nachbar kommen:„Geht das auch noch lauter? Unsere Kleine schläft.“
„Entschuldigung“, murmelte Sandra. Danach drückte sie wieder auf Andrés Türklingel.
Dieser ging ins Bad und drehte die Dusche voll auf. Er wünschte sich, einfach alle Gedanken wegspülen und im Ausfluss verschwinden lassen zu können. Unruhig lauschte er dem Rauschen des Wassers. André hoffte, dass Sandra von allein verschwinden würde. Tatsächlich hörte der Klingelterror irgendwann auf. Puh. Er verstand Sandra nicht. Egal, was von ihr kam, er konnte damit jetzt nicht umgehen. Jetzt nicht, heute nicht und auch morgen und übermorgen nicht.
Basta.
Da stand ich
Mit dem Koffer in der Hand
Bereit zu gehen
Ich zögerte und wartete
Ob er hinter mir irgendetwas zu sagen hatte
Sandra gab die Klingelei an Andrés Wohnungstür nach einer Weile auf. Sie entschied, eine Notiz zu schreiben und kramte nach einem Zettel: André, ich muss mit dir reden. Bitte! Ich habe einen Fehler gemacht … Melde dich bei mir. S.
Sie schob den Zettel unter der Tür durch und ging.
Seit einigen Tagen bereute sie ihre Entscheidung, alles so schnell aufgegeben zu haben.
Tränen liefen mir über die Wangen,
als ich die Tür hinter mir zuschlug
Urplötzlich keimte die Angst in Sandra auf, als alte Jungfer zu enden. Letztendlich mäkelte sie an fast jedem Kerl herum: Einer war zu klein, der nächste zu dick, wieder ein anderer Raucher oder hatte zu viele Probleme aus der Vergangenheit; Kinder? Absolutes No-go. Würde sie jemals jemanden wie André finden? Er war immer für sie da gewesen und hatte ihre Sorgen ernst genommen, sie getröstet und aufgeheitert … andere Männer machten das nicht. Wieso drängte sich ihr überhaupt dieses ständige Vergleichen auf? Was wollte sie denn? Das Wort Liebe erschien ihr wie ein loser Sammelbegriff für alle möglichen und auch unmöglichen Gefühle. Was, wenn es der größte Fehler ihres Lebens gewesen war, André zu verlassen?
Tränen liefen mir über die Wangen,
als die Tür ins Schloss fiel
Für immer?
Ein paar Tage später entschied sie, André erneut in seinem Zuhause zu aufzusuchen. Er hatte sich auf ihre Nachricht nicht gemeldet. Als ein Nachbar herauskam, nutzte sie die Gelegenheit, ins Haus zu gelangen.
Sie stieg die gewohnte Anzahl Stufen hinauf in den dritten Stock und machte sich Gedanken, wie das wohl ablaufen würde. Besser oder schlechter als neulich? Selbes Ergebnis?
Oben stellte sie fest, dass die Wohnungstür nur angelehnt war.
„André?“ Sie betrat langsam die Wohnung, ging in die Küche, schaute ins Bad sowie ins Wohnzimmer. Keiner da. Ob er die Wohnung überstürzt verlassen und vergessen hatte, abzuschließen? Sah ihm so gar nicht ähnlich. Doch dann hörte Sandra Geräusche … aus dem Schlafzimmer. Ohne länger darüber nachzudenken, ging sie hin und blieb wie erstarrt im Rahmen stehen. André und ein Mann?
Es war aus und vorbei.
Für immer!
Bildquelle: (c) DA