Von Benjamin Bessert und Dierck von Hildesheim.
jiddischtotaschfahl
den zusammenhang im kopf
den pappbecher zerknüllt
in der hand am gleis
die uhr steht auf sieben –
und jetzt wie auch schon
überall
frauen mit jiddischtotaschfahlenem zopf.
(dierck von hildesheim)
jiddischtotaschfahl fortsetzung
Bahnhofsgrausen
Züge donnern fatal
fahren sie noch
wohin?
nicht dorthin.
vorher noch zu dir.
du wartest.
wir telefonieren.
beschließen das Ende.
gemein.
der Keller wartet.
Züge fahren nicht mehr.
nur dorthin
für uns.
Bahnhofsgrausen …
… Ich stand am Bahnhof. Grunewald. Dein Kopftuch war mir noch im Gedächtnis, wie der Wind mich noch umfing und das Tosen des abfahrenden Zuges mir im Ohr nachhallte. Viele Nächte war ich schon wach. Wie du. Gebannt vom Fernseher, von der Entwicklung. Nun fuhren die Züge wieder. S-Bahnhof Grunewald. Mein Blick fiel auf das Denkmal, die alten Gleise von damals. Glänzten gülden, wie die neue Zeit der Anderen.
Käme noch ein Zug, würde ich ihn nehmen. Zu dir. Doch an diesem Bahnhof scheint alles nur eine Richtung zu nehmen. Also bin ich vorsichtig, rufe dich lieber noch mal an. Ob sie deine Nummer schon gesperrt haben? Deinen Namen entdeckt, in einer Liste? Ich traue mich nicht. Genau wie früher, als die Gleise drüben nicht gülden waren, sondern rostig braun, und als unsere Liebe noch jung und frisch, wie mir nun unser Tod scheint. Alles schon verabredet. Gleich bei der ersten Nachricht, die sich herumsprach. Ich will nicht fahren, nicht in diese Richtung. Zu dir. Zum Keller. Zum Tod.
Weg vom Bahnhof.
Ich irre umher. Wenn irren nur möglich wäre. Die Richtung stimmt. Immer entgegengesetzt den Zügen. Die Straße entlang. Autos fahren noch. Benzin für die Lastwagen. Immer mehr davon die letzten Tage. Sonst sind die Straßen leer. Eiskalt. Ein bitterer Tod wartet in der Kälte. Besser als dort – nackt.
Du weißt ja, was ich gern esse. Darauf freue ich mich schon. Du konntest immer gut vorbereiten. Davor graut es mich schon jetzt. Dich werde ich danach nicht fragen. Wir wollen essen. Einmal noch. Dann nie wieder. Wie damals, bei den güldenen Gleisen.
Fast überfährt es mich, dieses dunkle Grollen der Räder, die meine Fußspitze züngelten. Wieder wach. Müde sterben. Was für ein Alptraum. Deine Arme dabei so nahe. Ob du mich festhältst? Bis zum Schluss? Dann sinken meine Arme zuerst. Und du bist allein. Nicht mehr lange. Ich bin gleich da.
Der Keller steht offen. Endlich warm. Die Luft wie vor 1000 Jahren. Eine Träne, dann zwei. Wo soll ich mich halten? Wohin mit mir? Wer zählt jetzt mein Rinnsal? Du musst unten sein, da ganz unten, im Dunkeln warten. Die Tränen verwischen von einem letzten Fetzen Weiß, das mir fast aus der Tasche fiel. Fast hätte ich mich gebückt. Doch das lasse ich nicht zu! Nicht jetzt, wo ich es fast geschafft habe.
Das Trappeln der bleiernen Stiefel von oben herab lässt mich erschaudern für einen Moment. Fast stolpere auch ich die Treppe runter. Doch Vorsicht. Du wartest. Da unten, dein Essen, deine Arme. Unser Tod.
Ein bewegtes Bild vor meinen Augen, das werde ich nicht los. Wie ich nach meiner Rasierklinge zittere, sie suche, in der Tasche, sie nicht herausbekomme, wie den einen Gedanken. Warum? Die Klinge war für den Notfall. Du hattest gar keine, denn du warst näher am Keller, hast auf mich gewartet, als ich noch am Bahnhof stand, bei den güldenen Gleisen.
Das Licht leuchtet ebenso. Jetzt. Der Weg da vorne, dann rechts, der Verschlag ist da vorne. Auch du weinst. Ob wir noch essen? Ich habe Hunger. Trost. Der letzten Minuten.
Das Essen steht da, beide wissen, was in dem Getränk in der Thermoskanne enthalten ist. Benni wollte es warm haben, wenn er es trinkt. Conny zitterte noch, als Benni seinen weißen Mantel um sie legte. Trost rann ihm aus ihren Augen, und sie küssten sich tatsächlich. Die zarte Hand an ihrer Backe trocknete die Tränen zu einem leiser werdenden Wimmern.
Beide waren so weit. Benni brach das Brot. Zu etwas anderem waren sie nicht mehr in der Lage. Connys Lippen dürsteten, doch nicht nach dem Getränk, nicht mehr nach Bennis Lippen, ihr wirrendes Haar fiel strähnig gen Boden. Sie wollte, was in ihm war, in diesem Saft.
Kaum war es möglich, die Kanne ihr vom Munde zu reißen, dann sanken ihre Hände nach unten, während Benni, noch zögernd und entmutigt von Connys Mut an ihre Lippen dachte und zwei Züge trank, als wäre es Bier.
Mutvoll nun stand Benni auf, während Connys Arme schon am Boden verhaftet blieben, doch ihr Atmen, das Wimmern, das Röcheln ließen Bennis Ohr ersausen. Fast stehend, halb wankend, sah Benni ihr von oben zu. Ihr Blick war immer noch, oder schon für immer, gen Boden gerichtet. Sein Kopf begann zu schmerzen, das halbe Wanken verdoppelte sich, bis er noch einmal den Keller roch und sein Kopf auf den Boden knallte. Die Augen weit aufgerissen, wo war Conny, da war nur der Boden, wo waren ihre Arme, wo war sein Gehör, das sich schon aufzulösen schien und noch einmal das Tosen vom Bahnhof vernahm. Conny war nicht zu sehen, nur die Blutlache, die seine Nasenspitze berührte, nicht ihr Röcheln war zu hören, nur das Tosen. Die Augen blieben starr, ein winziger Blickesdrang noch Richtung dem, was Conny war. Dann Weiß.
Strahlend Weiß, unendliche Hitze in Millisekunden verschlang alles, bis in den Keller hinunter in die letzte Ritze: Weiß, Hitze, Glut, kein Benni, keine Conny, kein Brot, keine Flasche, kein Tosen: Weiß.
So wie Bennis Mantel, der sich damals um Conny schlang. Man war ihnen zuvorgekommen, den tosenden Zügen.
Das Blitzen auf der Kugel war mal hier, mal dort, ein paar Monate lang, hin und wieder. Mal nah an der Stadt, um zu drohen, mal weiter weg, um zu quälen. Armeen rannten durch Europa, verwirrt, nicht wissend wohin, nicht wissend, wer die Blitze sandte. Zerstörung, Vernichtung Ziel des einen Soldaten, der andere blindlings laufend gen Heimat, nicht wissend, wo sie war, sei es aus Blindheit wegen der Blitze, sei es aus Blindheit, die aus den Nachrichten sprach. Als überall die Hoffnung sank, war die Schönheit dieses Weiß, dieses strahlenden Weiß, wie Bennis Mantel, der Conny umschlang, nicht mehr aufzuhalten. Die letzten Winkel hörten das Donnern aus der Ferne, bis ein Blitz auch diese Winkel entdeckte, bis auch hier Bennis Mantel die Erde ganz, ganz, umhüllte. So wie Conny. Damals.
die legende von der erfüllten hoffnung
nun: der mensch
ist vergänglich
also kein verlust –
an sich
–
an besseren tagen
spendet er schatten
feinen rauch
und wärme
–
doch immer
steht er
in anderen landschaften
neben sich
–
dort erhascht er
einen regenbogen
in seinem jahr
und juchzt darob
–
denn er lebt in der blase
“oberflächlichkeit”
die mit ihren lüstern über
marmornen stufen schwebt
–
aber
die natur holt ihn zurück
und lässt ihn rotten –
das ist ihre hoffnung…
—
(dierck von hildesheim)
Nachwort zur Entstehung
Nach lesen der Geschichte „Bei den güldenen Gleisen“ müssen Sie beachten, dass Benni und Conny keinesfalls Juden waren. Sie sind Psychiatriepatienten. Auch steht Benni nicht etwa in einem anderen Jahrhundert an diesem Bahnhof: es ist die heutige Zeit. Bedroht werden beide von der Gesellschaft, von all diesen Mitmenschen, die sie in eine unmenschliche Psychiatrie sperren wollen, wo Folterpraktiken regieren. In der Geschichte droht ihnen zudem noch der Abtransport in ein KZ. Das man sich wünschen mag, so eine Welt solle untergehen, werden Sie wohl begreifen.
Benjamin Bessert
Bildquelle: (c) DA