Von Enno Ahrens.
Vor zwanzig Jahren, kurz nachdem ich mit meinen Eltern fortgezogen war, sei ihre Mutter an einer Psychose erkrankt, sagte sie mir. Miriam und ich waren da noch Teenager gewesen. Ich sah ihr an, wie sie versuchte, Haltung zu bewahren, jedoch ein paar Tränen liefen ihr die Wangen herunter in ihrem immer noch feingeschnittenen Gesicht, in dem ich aber gegenüber früher eine ernste Grundstimmung mit nachdenklichen Zügen erkannte. Ihre blonden Haare hatte sie damals schon zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das passte gut zu ihrer mädchenhaften Gestalt.
Wir schlenderten den langen Korridor des Sanatoriums bis ans Ende entlang. Ihre Mutter gehörte zu den Dauerpatienten, die ein eigenes Zimmer bewohnten, mit einer spartanischen Einrichtung, ein Bett, ein Kleiderschrank und eine Waschgelegenheit. Sogar eine Tür zu einem bescheidenen Balkon gab es. Ihre Mutter saß auf einem Sessel und tippte auf der Tastatur eines Notebooks. Durchs offene Fenster zum Garten wehte eine laue Sommerluft herein und der Duft von Lindenblüten.
Ich hatte eine Patientin erwartet, wie man sie in Spielfilmen ständig gezeigt bekommt, apathisch und geistesabwesend. Doch Miriams Mutter, die mir äußerlich kaum verändert vorkam, blickte sofort zu uns auf, als wir das Zimmer betraten. Wir kamen miteinander ins Gespräch. Und schnell erfasste ich ihre geistige Verwandlung. Sie schreibe lyrische und surrealistische Kurztexte, bemerkte sie beiläufig, machte aber eine Miene dabei, als ob ihr Leben davon abhinge.
Nachdem wir uns bis in den späten Abend unterhalten hatten und sie mir ein paar ihrer gedruckten Werke in die Hand gereicht hatte, in denen ich zwischendurch las, während sie uns Kaffee und Kekse servierte, war mir eins klar: Sie hatte die reale Weltbühne verlassen und lebte in der surrealen Wirklichkeit ihrer Schriften. Interessant fand ich, dass alle Texte sich um eine Mutter rankten, die, wenn ich die phantastischen Umschreibungen richtig entschlüsselte, Angst hatte zu versagen und mit Schuldgefühlen beladen war.
Es wird ja immer wieder behauptet, Geisteskranke zeichneten sich durch wirres Gedankengut aus. Doch ich war überzeugt, im Verhalten von Miriams Mutter durchaus plausible Muster und Motive zur Gedankenflucht erkannt zu haben. Ich hatte von Patienten gelesen, die in einen Größenwahn verfallen waren, sich für Jesus oder Hitler hielten. Das deutet ebenfalls daraufhin, nicht wirr zu sein, sondern dahinter könnte sich eine Strategie verbergen, ihr Heil in einer parallelen Scheinwelt zu suchen und der realen wenigstens vorübergehend zu entsagen. Alles geschieht natürlich unbewusst; man lässt es mit sich geschehen, gesteuert vom Unbewussten, unterwirft sich ihm bzw. wird unterworfen.
Als ich mich am Ausgang meiner Jugendzeit das erste Mal näher mit dem Geist-Seele-Problem auseinandergesetzt hatte, und da ja schon Zweifel bestanden, ob es überhaupt einen Geist gäbe, hatte ich mich gewundert, dass die Psychiater bereits Geisteskranke behandelten. Man attestierte jemandem, Sie haben eine Schizophrenie. Ich konnte mir das nie vorstellen, wobei mich das Wort „haben“ misstrauisch werden ließ. Nun gut dachte ich, hat wohl mit unserer Habenmentalität (E. Fromm) zu tun. In hebräisch würde es wohl heißen „es ist zu mir“. Irgendeiner sagte dann jenen Satz, der sich mir einprägte: Geisteskrankheit ist nicht was ich habe, sondern was ich bin.
Es wäre denkbar gewesen, Miriams Mutter in unsere Welt zurück zu lotsen. Sie hatte aber eine überwiegend große Freude an und in ihrer surreal konstruierten Welt, vermutlich, weil sie darin Entlastung fand, so dass ich meine Erkenntnisse für mich behielt. Ich verabschiedete mich von Miriams Mutter mit aufmunternden Worten, dass sie nicht nur düstere Geschichten verfassen solle, wie die von dem Mord an einen Mann, dem ein Eispickel im linken Auge steckte, sondern auch mal etwas Fröhliches. Aber die Dame schien meine Worte zu überhören. Sie blickte besorgt in das plötzlich erblasste Gesicht ihrer Tochter. Miriam beruhigte uns, es wäre nichts Ernstes, nur ihr monatliches Frauenschicksal, wie sie es nannte.
Bevor ich den nächsten Tag abreiste in meine sechshundert Kilometer entfernte Stadt, trugen sich einige seltsame Vorgänge in Miriams Haus zu. Ich hatte Nachtquartier bezogen im Esszimmer auf einer extra für mich bereitgestellten Liege und wurde durch ein Geräusch aus meinem leichten Schlaf gerissen. Ich sah Miriam, die wie eine Schattenfigur jene vom Vollmond beleuchtete Bühne durchschritt, die rechte Hand erhoben, in der sich irgendein Gegenstand abzeichnete. Miriam bewegte sich aus der Küche auf mich zu. Ich befand mich noch immer auf der Liege. Miriam kam mir vor, wie von einer fremden Macht gesteuert, steifbeinig schreitend.
Ich verließ geschwind mein Lager, betätigte den nächstgelegenen Lichtschalter neben dem Türkranz zur Küche, und die Schrankbeleuchtung ging an. Neben der Kühltruhe auf der Anrichte lag ein großer Kopf Weißkohl. Er wies mehrere Einstichspuren auf. Und nun erinnerte ich mich an die Laute, die mich geweckt hatten, an dies Tackern. Der Eispickel fehlte in seiner Halterung an der Wand. Ich machte das Licht aus und beobachte Miriam, die inzwischen im Garten angelangt war und ihren nachtwandlerischen Spaziergang weiter fortsetzte. Der Mond lächelte wie immer.
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