Von Erhard Schümmelfeder.
Ich habe mich in diesem Trümmerhaus verbarrikadiert. Durch das beschädigte Dach regnet es ins Zimmer. Blitze zucken am schwarzen Himmel. Oder ist er rot? Draußen in der Stadt ist das Chaos ausgebrochen. Sirenen heulen. Brennt wieder ein Haus? Ich bin meines Lebens nicht mehr sicher. Aber solange ich den Stift führen kann, kritzele ich aufs Papier, was Du wissen sollst …
Ich wollte nicht auf Dich hören. Ich wollte meine eigenen Erfahrungen machen. Jetzt weiß ich, dass Du Recht hattest mit deinen schlimmsten Befürchtungen, als Du mich vor den Gefahren der Reise in dieses Land warntest. Nicht nur die Sauberkeit lässt zu wünschen übrig. Auch Lebensmittel werden knapp. Man prügelt sich bei den Mülltonnen um Abfälle. Die Milch hat einen sonderbaren Geschmack. Oft klebt die Zunge am Gaumen. Der Druck auf den Ohren ist unerträglich. Man verliert den den den Verstand und kann nichts machen …
Die Stromversorgung kann nicht mehr garantiert werden. Wegen des Wassermangels türmt sich Geschirr im Abwaschbecken. Aber das sind Bagatellen im Vergleich zu dem Tumult in den Straßen. Alle Ampeln zeigen Gelb. Massenkarambulagen gehören zum Alltag. Falschparker werden an Ort und Stelle erschossen. Ausreden zählen nicht mehr. Weitere Konsequenzen wurden bereits angedroht. Gestern mahnte ein Verrückter zur Vernunft und lief anschließend Amok. Schüsse und Schreie hallen durch die Gassen. Übellaunigkeit bestimmt den Tag. Plünderungen kommen immer wieder vor. Im Zweifel geht es zu Lasten des Angeklagten. Man fackelt hier nicht lange. Die Angst geht um. Schlimm ist auch die Habgier. Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus. Mitleid ist nur ein Wort. Ich kann nur ein unklares Bild der Zustände schildern… Der Stift in meiner Hand wird schwer … Ich … ich denke oft an ….
Gestern wurde einer buckligen Frau in einer Warteschlange die Geldbörse entwendet. Hinterher wollte es keiner gewesen sein. Jeder denkt nur an sich. Verdächtigungen werden ausgesprochen. Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund. Man hört viel zynisches Gekeife. Misstrauen breitet sich aus. Die zunehmende Hartherzigkeit stellt ein Hauptproblem dar. Warnungen verhallen im Winde. Heute brach eine Giraffe aus dem Zoo aus. Ein Hund wurde als vermisst gemeldet. Aber wen interessiert das noch. Ordnungshüter erklären sich für unzuständig. Ohne Bestechung läuft gar nichts. Schlendrian macht sich breit. Nicht einmal auf die Ärzte ist Verlass. Impfen zeigen keine Wirkung. Geschwüre treten zuerst zwischen den Zehen auf. Die Finger beginnen zu zittern … Wenn Du wüsstest … Ich denke oft an Zuhause und …
Ratten tummeln sich überall. Die Kanalisation ist überlastet. Verantwortliche sind nicht erreichbar. Befehle werden missachtet. Raffsucht und Nötigung sind statistisch nicht mehr nicht mehr erfassbar. Am helllichten Tag wird man von Pöbelbanden überfallen und nach Brauchbarem durchsucht. Der – der – der – die Lage ist gespannt. Zwischenmenschlich tun sich Abgründe auf. Alte Feindschaften erhalten neuen Zündstoff. Gehässigkeiten machen die Runde. Dumpfe Wut aller gegen alle. Sachbeschädigungen lösen Entsetzen aus. Kinder entgleiten. Mütter verwandeln sich in Bestien. Väter suchen Heil im Sinnenrausch. Wer nicht durchhält, bleibt auf der Strecke. Ich weiß nicht, wie … Mir fehlen die Worte … Ich …
Auch das das das Wetter spielt nicht mehr mit. Man fürchtet überfrierende Nässe. Bittgesuche gehen auf dem Postweg verloren. Korrupte Beamte des Ordnungsamtes hüllen sich in Schweigen. Es hagelt Proteste. Offene Fragen bleiben unbeantwortet. Beten hilft wenig. Ungereimtheiten in den Nachrichten stiften Verwirrung. Das Volk murrt. Selbst Kinderlose werden wieder zur Kasse gebeten. Der Schwarzmarkt für Lebensmittel und Luxusgüter blüht. Da wird mit der Pistole in der Hand gefeilscht. Viele verlieren die Nerven. Auf Wunder hofft man vergeblich. Immer wieder stürzen Häuser ein. Katzen stehen auf jedem Speiseplan. Smog vernebelt die Sicht. Trostworte hört man selten. Am quälendsten aber ist die Ungewissheit, wie es weitergehen wird in diesem Lande. Fest steht schon jetzt: Es kommt noch schlimmer.
Ja, ich habe mich in diese entsetzliche Hölle auf Erden begeben, obwohl du mich immer und immer wieder vor den zu erwartenden Gefahren gewarnt hast. Nein, ich ich wollte nicht auf dich hören und lieber meine eigenen Erfahrungen machen. Jetzt hocke ich ratlos hier inmitten der qualmenden Trümmer und … und … Ich denke oft an Zuhause und an Deine guten Ratschläge. Ja, du hattest immer Recht. Das gebe ich zu. In einem Punkt aber irrst Du dich: Ich komme noch lange nicht zurück nach Hause, denn – denn – denn so leicht gebe ich nicht auf …
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