Novelle

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Der Fluch

Von Horst Leiwig.

Kürzlich las ich in der Zeitung, dass Wissenschaftler zu der Ansicht gelangt sind, Menschen würden tatsächlich an gebrochenem Herzen sterben. Von älteren Ehepaaren hatte ich schon des Öfteren gehört, dass, wenn einer gegangen war, der andere ihm unmittelbar darauf gefolgt war. Einfach so, ohne Grund und ohne erkennbare Erkrankung. Natürlich war mir aus Geschichten und Erzählungen bekannt, wie schwer seelische Erschütterungen auf den menschlichen Organismus wirken. Aber das war so wie Wissen in abgespeckter Form, das man en Passant aufgreift, um es lässlich auch zu vergessen.

In den Jahren, als ich noch umherreiste, lernte ich Bernhard Teichler kennen, einen rührigen Kommunalmenschen, der in vielen Vereinen mitmischte und auch den einen oder anderen Posten innehatte. Unter anderem war er im Schützenverein, dem Sportverein sowie als Rassegeflügelzüchter auch noch in einem Anglerverein, der einmal im Jahr auf Dorsch ging und zur Ostsee hochreiste. Bernhard war ein umgänglicher Typ, gesprächsbereit und auch willig, was bei einer Beamtenbeurteilung vielleicht als geselliger Mensch umschrieben worden wäre, also auch mit dem Hintergedanken, dass er alkoholischen Getränken nicht abgeneigt war. Aber das hielt sich, wie ich feststellen konnte, durchaus in Grenzen. Es kam nie zu irgendwelchen Exzessen.

Bernhard lud mich auch zu Festen ein, und da ich damals in der kleinen Stadt beruflich für längere Zeit zu tun hatte, nahm ich gerne seine Einladungen an. Wir wurden gut miteinander bekannt und waren fast schon so etwas wie Freunde. Die Stadt war als Winterquartier für Schausteller gut bekannt.

Auf einer der Veranstaltungen lernte ich Michael Marske kennen, der sehr zurückhaltend wirkte und auch nicht aus sich herauskam. Er schwieg mit einem leicht zusammengepressten Mund und ließ lieber Bernhard Teichler reden. Michael hatte leicht angegraute Hare an den Schläfen, seine Augen waren nicht gleichfarbig, das eine etwas heller als das andere. Er nickte oft zustimmend, was aber kaum jemand zu bemerken schien. Auf mich machte er einen bescheidenen Eindruck. Aber seine Augen schauten flink.

Während der Veranstaltung verließ uns Bernhard mehrmals, um mit Vereinsmitgliedern oder anderen guten Bekannten etwas Dringendes zu besprechen, wie das in einem überschaubaren Personenkreis so üblich ist. Michael Marske und ich blieben allein zurück. Ein etwas holpriges Gespräch entstand, vielleicht darauf zurückzuführen, weil wir uns so gut wie überhaupt nicht kannten.

„Sie kennen Bernhard Teichler schon länger?“, fragte ich.

„O ja. Wir waren zusammen in der Schule in einer Klasse.“

„Das ist schon etwas her“, antwortete ich. „Ohne zu übertreiben sieht man das natürlich sofort. Ich denke, wir Beide sind etwa im gleichen Alter.“

„Das denke ich auch.“

Ich suchte nach Worten, die sich einfach nicht einstellen wollten.

„Und was machen Sie beruflich?“, fragte ich plump weiter.

„Ich bin Controller im Metallgewerbe“, antwortete er. „Qualitätskontrolle, Refa, und so weiter und so fort. Nicht immer die gerngesehensten Leute. Und Sie?“

„Wie?“

„Was machen Sie beruflich?“

„Ich? Ach so. Ich bin freiberuflicher Journalist, mehr frei als Journalist. Ich suche mir meine Themen aus, die ich dann später an den Mann zu bringen versuche.“

„Und das klappt?“

„Nicht immer. Aber so manches geht schon.“

Er lächelte mich zum ersten Mal an, und dann fragte er: „Und was führt Sie hier zu uns in die kleine Stadt? Sind wir für Ihre Recherchen so interessant?“

„Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte ich zögernd, „aber darüber möchte ich in dieser Phase natürlich nicht sprechen. Ich bin noch mitten in der Findung. Vielleicht muss ich meinen Ansatz auch liegenlassen und aufgeben. Wer weiß?“

Ein kleiner Tumult entstand, weil soeben ein Paar den Saal betreten hatte, die sofort durch ihre Bekleidung auffielen. Beide waren sie etwa gleichgroß, die Frau schlank, der Mann etwas plumper. Er hatte eine blaue Jeanshose an sowie ein schwarzes Cordhemd. Die Arme waren voll tätowiert.

Sie hatte schwarze Haare und braune Augen, unter denen tiefe dunkle Schatten lagen. Außer schwarzen Jeans trug sie einen schwarzen Bolero und eine kleine schwarze Tasche. Sie war, genaugenommen, das Gegenteil eines Frühlingstages.

Das Paar ging auf einen Tisch zu, an dem anscheinend Plätze für sie freigehalten worden waren.

Ich glaubte, einen Schatten über Michael Marskes Gesicht huschen zu sehen. Aber schnell hatte er sich wieder in der Gewalt.

Eine ganze Weile verging, an dem auch Bernhard Teichler kurz an unserem Tisch auftauchte und nachfragte, ob wir uns auch gut amüsierten. Wir nickten zustimmend im Trubel der Musikkapelle, und als die Pause machte und ihre Instrumente auf den jeweiligen Ständer einhängte, schauten wir beide, die wir nun mal zusammensaßen, uns wieder lächelnd an. Wir tranken uns zu und hoben unsere Gläser in Augenhöhe an.

„Haben Sie das Paar gesehen, dass vorhin den Saal betreten hat?“, fragte er mich auf einmal. „Ich meine die da vorne neben dem Pfeiler sitzen?“

Ich drehte mich um, konnte aber das Pärchen kaum entdecken, da sie von anderen Personen verdeckt waren. Aber es wurde an dem Tisch gelacht.

„Flüchtig“, antwortete ich. „Meinen Sie den tätowierten Typen und die dunkel gekleidete Frau? Sie ist sehr schlank, nicht, fast zart?“

„Genau die“, sagte Michael. „Bevor ich meine jetzige Frau geheiratet habe, war ich mit ihr zusammen. Wir waren lange Zeit ein Paar. Als ich mich von ihr wegen meiner Frau getrennt habe, hat sie mir nie verziehen.“

„Oh.“

„Und nun verfolgt sie mich seit Jahren“, stellte er resigniert fest. „Überall wo ich bin oder auftauche, erscheint sie ebenfalls. Manchmal mit ihrem Bruder, wie jetzt, und dann auch wieder alleine. Obwohl ich oft selbst gar nicht weiß was ich noch machen werde, sie kommt immer dann, wenn ich eigentlich meine, das könnte niemand wissen. Ich weiß nicht, woher sie ihre Informationen hat. Sie ist wie eine Klette, die ich nicht loswerde.“

„Und haben Sie vielleicht auch mal daran gedacht, das anzuzeigen?“, fragte ich vorsichtig. „Gibt es da eventuell nicht eine rechtliche Bestimmung, die das verhindern könnte?“

Er schüttelte den Kopf.

„Habe ich. Sie tut nichts, was strafbar wäre. Sie belästigt mich nicht, sie übt keinen Telefonterror aus. Sie erscheint immer nur da, wo ich auch bin. Als Gruß nickt sie nur kurz mit dem Kopf, aber ansprechen tut sie mich nicht. Und alles nur aus verschmähter Liebe? Kann das sein? Sie weiß doch, dass ich verheiratet bin.“

„Sie muss Sie wohl sehr geliebt haben“, sagte ich, was fast wie ein einstudierter Satz wirkte. Schon als ich ihn gesagt hatte, fand ich ihn blöd.

Bernhard Teichler hatte seine umfangreichen Erledigungen abgearbeitet und erschien nun wieder an unserem Tisch. Er war aufgeräumt, fröhlich, die Themen der Unterhaltung wechselten von hier nach dort. Michael Marske setzte den Dialog mit mir nicht weiter fort. Er erwähnte nur einmal kurz, dass die Beiden gegangen seien, was mir nicht aufgefallen war. Als wir uns trennten, hatten wir uns an etwas Politischem festgebissen. Ein Männerthema, mit Frauen kommt es selten so weit, aber wenn, dann beißen sie.

Es dauerte mehrere Tage, bis ich Bernhard Teichler wieder traf. Wir hatten uns sportlich an einem Lauftreff beteiligt und setzten uns danach auf ein Bier in das Vereinsheim, unmittelbar neben dem Sportplatz. Da es mir schon lange auf der Zunge lag, fragte ich sofort nach der dunkel gekleideten Frau, die allem Anschein nach den Michael Marske irgendwie verfolgte oder hinterherlief.

„Die Katarina“, lachte Bernhard mit gurgelndem Unterton. „Ach die. Eigentlich heißt sie ja Jekatarina. Michael war mal mit ihr liiert. Aber die weiß doch längst, dass er mit der Birgit verheiratet ist. Vielleicht ist das von der Katarina die angedunkelte Seite, wenn sie manchmal da auftaucht, wo er sich gerade aufhält. Aber alles ist harmlos. Katarina macht nie Theater oder probt den Aufstand. Michael fühlt sich eigentlich grundlos verfolgt.“

„Und was ist mit dem Mann, der bei ihr war, diesem Tätowierten? Er sah recht gefährlich aus?“

„Ihr Bruder, ein Hallodri, soviel ich weiß“, sagte Bernhard. „Was der so macht, weiß ich gar nicht. Er ist jedenfalls viel unterwegs. Es war mal von Teppichen die Rede. Aber sicher bin ich mir da gar nicht.“

„Und sie, die Katarina, wovon lebt die?“

Bernhard schaute mich erstaunt und belustigt an.

„Das weißt du nicht?“, lachte er. „Katarina steht auf jeder Kirmes mit ihrem Wahrsagewagen. Sie ist Wahrsagerin. Immer wenn du reinkommst ist links der Kirmeswagen der Wahrsagerin. Gegenüber ein Holländer mit Blumen. Hinter Katarina kommen die gebrannten Mandeln und danach die erste Fischbude. Das ist wie ein festgeschriebenes Gesetz, Schaustellergesetz.“

Er schaute mich weiter amüsiert an und erklärte mir dann, dass Jekaterina, jetzt Katarina, eine Roma sei und vom Balkan komme, kurz vor der Dobrudscha, in der Ecke etwa. Wann Katarina allerdings nach hier zu uns gekommen sei, das wusste Bernhard nicht. Bestimmt nach dem Krieg, als kleines Kind, meinte er, bevor wir uns trennten.

Natürlich hatte ich in der Katarina keine Wahrsagerin gesehen, wobei ich nicht einmal annähernd wusste, wie eine Wahrsagerin auszusehen hatte. Das Übernatürliche war mir nicht so sehr bekannt, als dass ich mir Gedanken darüber gemacht hätte. Aber so viel wusste ich, dass Hütchenspieler dich immer übers Ohr hauen. Bei Karten und wie man sie zu legen hatte, war ich mir zumindest unsicher. Verdächtig aber war mir einfach alles. Ich hielt mich lieber an die Tatsachen.

Und die erschreckten mich furchtbar, als ich Bernhard wieder traf. Nicht eine Spur von Aufgeräumtheit war auf seinem Gesicht zu erkennen. Er blickte ernst und gefasst.

„Hast du es schon gehört?“

„Was? Was soll ich gehört haben?“

„Der Michael Marske ist tot“, sagte er mit verhaltener Stimme. „Er lag mit einem Buch in der Hand und offenen Augen im Bett. Seine Frau hat ihn gefunden, nach der Arbeit.“

„Und?“, fragte ich. „Was hatte er? Herzschlag?“

„Sagt der Arzt“, antwortete Bernhard. „Und das wird sicher stimmen. Nur . . .“

Er zögerte.

„Ja?“

„Michael hat mir einmal anvertraut, dass Katarina ihn verflucht habe“, fuhr Bernhard fort. „Sie hat nie verwunden, dass Michael sie wegen einer anderen verlassen hat.“

„So was von verlassen hat er mir auch erzählt“, sagte ich. „Nur nichts Bestimmtes.“

Bernhard Teichler hob den Kopf. Seine Stimme klang sehr streng.

„Sie hat ihn verflucht mit den Worten: ,Ich wünsche dir, dass du eines Tages die Augen aufreißt und gar nicht weißt, dass du schon tot bist.‘ Und jetzt hat sich also ihr Fluch erfüllt.“

Ich schaute Bernhard erstaunt an, weil so viel Ernst in seiner Stimme lag.

„Meinst du, so etwas gibt es?“, fragte ich verhalten, wobei die Frage auch an mich selbst hätte gerichtet sein können.

„Wieso eigentlich nicht“, erwiderte Bernhard. „Eines Tages wird die Forschung das bestimmt herauskriegen. Bis dahin bleibt das Okkulte allerdings außen vor.“

Eine ganze Weile schwiegen wir beide, innerlich betroffen und aufgewühlt.

„Es ist beinahe so wie mit dem gebrochenen Herzen“, murmelte ich kleinlaut vor mich hin. „Wie mit dem gebrochenen Herzen.

In diesem Augenblick überflog uns gerade mit knallenden Rotorblättern ein Rettungshubschrauber. Und wie von selbst war es plötzlich still, als er sich von uns fortbewegte.

„Ja“, erwiderte Bernhard, in sich gekehrt. „Nur als ein anderer Seelenweg, unbekannt und dunkel zugleich.

„Sehr dunkel“, warf ich noch ein.

Bildquelle: (c) DA

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