Von Kevin Sommer.
In einer nach Pistaz, Nugat, Nugatpistaz und Marzipan riechenden Werkstatt ließ Shui-Ta die Hand über die Außenhaut des Ærophons gleiten.
Eine Minute lang, eine weitere, drei.
Dann presste er – nicht ohne Seufzen – die Schnallenstiefel in die eigens dafür vorgesehene Pedalhalterung, die Finger gegen die Ventile, die Lippen gegen das Mundstück.
Und wenn sich nun das ein- oder andere Ohr an den Spalt gepasst hätte, um den das einzige Fenster, über das Tas Werkstatt verfügte, breit offenstand, um dem Spiele dieser alten, eingesunken-, doch nicht eingefallenen Gestalt beizuwohnen – sagen wir, weil das dem ein- oder anderen Ohr jeweils nähere Auge, sagen wir, einer Person x (zufällig des Wegs) in die Werkstatt hineingeblickt und Ta gesehen hätte: zum Spiel sich anschickend –, wenn also das ein- oder andere Ohr (einer nur in unserer Vorstellung existenten Person x) sich an den Fensterspalt gepasst hätte, es hätte an der Musik, die Ta dem Instrumente entrang, obgleich alles an ihr „unerhört“ schrie, rein gar nichts Unerhörtes gefunden, weil es die Musik überhaupt nicht gehört hätte, weil die Augen – in grotesker Verwringung, beide zugleich, über das linke oder rechte Ohr hinwegschielend – (dem Spiele simultan) etwas so Unglaubliches in der Stube sich abspielen gesehen hätten, dass die Musik dem einen wie dem anderen Ohr vollkommen ungehört, ja ungehörig durch den aufs Gegenteil gefassten Gehörgang gestrichen wäre.
Verstehen Sie? Die (von meiner abgesehen) nur in Ihrer Vorstellung existente Person x sah – durch Tas Werkstattfenster blickend – etwas so Unglaubliches, dass der Sinn, der es ihr, in unserer Vorstellung, (überhaupt) erlaubte, zu sehen, in ihrer (ohnehin vielleicht spärlichen) Wahrnehmung einen so großen Raum einnahm, einnehmen musste, dass der Sinn (wiederum), der es ihr, in unserer Vorstellung, erlaubte, erlaubt hätte, zu hören, keinerlei Raum mehr für sich beanspruchen konnte. Mit anderen Worten: Weil sie sah, was sie sah, hörte sie nicht, was sie hörte.
Wenn sie aber sah, was sie sah, was war es, dass sie sah?
Das Ærophon. Wie es sich samt seines -isten Ta, der es immer heftiger blies, krallte, trat – über dieses Blasen, Krallen, Treten, das heißt (in einem Wort): über das Gespieltwerden hinweg – in die Lüfte hob, mehrere Minuten lang eine Handbreit über Werkstattboden schweben blieb und wieder herabsank.
Während der Schwebeminuten hatten es die mikroskopisch kleinen Putz- und Babelfische, die Tas Ohren instand zu halten bestrebt waren, vermocht, aus der (nur) leicht (aber immerhin) erhöhten Position ihres Daseins Kapital zu schlagen. Indem sie bald auf das nach Sand riechende Dach des Bücherbords, bald gegen die von der Decke hängenden Räucherwürste gesprungen waren.
Kaum dass es das Ærophon wieder auf semi-festen Boden aufgesetzt hatte, waren Schmäh dann Taworte, ich meine: Ta dann Schmähworte über die Lippen gedrungen (die wir hier nicht wiedergeben können).
Nicht deshalb natürlich (waren Ta die Schmähworte über die Lippen gedrungen), weil der (zeitweilige) Verlust der Putz- und Babelfische etwa zur Unzeit erfolgt wäre (was er nicht war; und überhaupt: die würden schon zurückkommen; früher oder später kamen die immer zurück); nein, Ta hatte geflucht und Ta fluchte noch immer, weil das Ærophon – wie sehr er auch die Backen gebläht, die Finger gespreizt, die Sohlen gewetzt hatte –, (mit ihm darauf) so überaus rasch wieder – sang-, wenn auch (immerhin) nicht klanglos – herabgesunken war.
Kaum dass Ta sich aus der Ærophon-Umklammerung gelöst hatte, stürzte er vor in die Richtung eines … Tischchens? (Nein. Nicht zwingend. Unter den Pergament-Myriaden hätte alles, vielleicht alles außer einem Tischchen verborgen gelegen haben können; wir werden es nie wissen; es ist auch nicht wichtig.)
Wie, toste (abermalig) durch die Windungen seines Hirns, während die Spitze eines plötzlich gezückten Bleistifts bald über die eng beschriebenen und mit Zeichnungen versehenen Pergamentblätter hinwegrauschte, wie, bei Achenbach und Lilienthal, konnte es angestellt werden, dass das Ærophon … (er warf den Bleistift, von plötzlicher Wut ergriffen, in Richtung Decke; er bohrte sich in eine Räucherwurst) … dauerhaft in den Lüften bliebe?
Denn obschon der Klang des Ærophons nicht umhinkam und -konnte, auf unerhörte Weise zu berauschen … Ta hatte es nicht um des Klanges willen konstruiert. Nein, „Fliegerei“ war das einzig’ Interesse, das der Instrumentenstruktur innewohnte. Es sollte ihn fliegen lassen, fortbringen von hier. Über die Mauern und die Nebelmeere hinweg. Raus aus der Gefangenschaft des Lagers.
Und das, obschon er es im Grunde aufgegeben hatte, zu fliehen.
Zu schmerzlich hallten die Laute der Säbelhiebe noch immer durch die Gänge seines Hirns, Hiebe, die damals, kaum dass der Versuch gescheitert war, die Umzäunungen zu untergraben, seinen Mitverschwörern den Tod gebracht hatten. Der Aufseher – der ihn, höchstselbst, aus den Armen des Geliebten gerissen hatte, damals, als Tas Ruf sogar bis in die Gebiete Sezuans vorzudringen begann –, der Aufseher hätte ihn, damals, als noch frischer Erdestaub den spatenmüden Schwielen seiner Hände geflohen war, den uralten Gesetzestexten gemäß, ebenfalls in Stücke schneiden müssen …
Doch natürlich brauchte er ihn.
Ta hatte die Instrumente der Lagermusiker instand und in rechter Stimmung zu halten, Instrumente, die hier, in den Dunst- und Nebelwolken der nördlichen Quellen, schneller verstimmten, brachen etc. etc. als sonst irgendwo.
Als ob die Boviste, die hier zu Tausenden die faulen Bäuche aus der Erde zwängten (und vorgeblichen Forschungszwecken dienten), tatsächlich von der wohlweislich komponierten Musik abhängig wären; ohne sie nicht gedeihen könnten. Ha! Ta spuckte aus und ließ einen eiligst gezückten Füllfederhalter um eine komplizierte, pergamenten-mathematische Formel schnörkeln.
Vor vier Monaten – als der Schallaustrittswirbel einer ihm anvertrauten Oboe (dessen Stimmung er geprüft hatte) in den Pfeifentrichter eines nahen Saxofons geströmt war (und ihn für einige Zentimeter nach oben geneigt hatte) – war ihm aufgestiegen, dass eine geschickte Zusammenführung (mindestens) zweier Schallröhren, die (an zentraler Stelle „zS“) zugeführte Atemluft so weit ver- und zerwirbeln konnte, dass ein tragfähig-musischer Unterdruck entstand …
Mmh! Als das Ærophon, damals, kaum (zeitweilig, prototypisch) fertiggestellt, das erste Mal (mit ihm) in die Luft geschwebt war! Wie ihn da, im Geiste, das Gefühl berauscht hatte, den Bartflaum des Geliebten nicht distanziert mehr zu wissen! Wie ihm da der Gedanke an Flucht wieder-, doch, stattdessen, nur der Werkstattboden nahegekommen war!
Ta stieß mit der Federspitze durch Papier.
Im Grunde wusste er ja längst, was es benötigte, um die Flugeigenschaften des Ærophons dauerhaft zu stabilisieren …
Das war es ja.
Ein weiteres Instrument; ein ungewöhnlich elastisches; eines, dessen Anblasrohr sich so weit biegen ließe, dass es – unter Aufrechterhaltung des applikativen Labungswinkels – mit den bereits bestehenden Ærophon-Unterstücken Æ und B verwrungen werden könnte, eines, das, ferner, ein ungewöhnlich stark ausgeprägtes Mundstück zu besitzen hätte, dessen (dann als neuer „zS“-Punkt fungierendes) Rohrblatt, wenn beatmet, eine doppelte Reflexion im Bereich der Ærophon-Duodezime etc. etc.
Nicht weit von Tas Werkstatt entfernt, in einer Stube, dessen gotische Teppiche, wie es sich ziemte, von den Laken eines Pfeif- und Zigarettenqualms verhüllt wurden, spielte Yang-Sun ein Solo.
Wie immer presste er die Lippen gegen das ungewöhnlich stark ausgeprägte Mundstück; die Hände gegen die Klappen des ungewöhnlich elastischen Anblasrohres. Doch die Töne! Die er den Notenblättern entrang, die rochengleich (vor ihm) das Pult bedeckten, … klangen nicht! Vielmehr, freilich, das Instrument, das sie käute, spie! Und Sun, dem die Blicke der Orchestermusiker, die ihn auf Klappgestühl berückten, Dolche waren, konnte sich nicht erklären, warum.
Als er sich letzte Woche – wie immer von den Gerüchen des Glasnudelwagens umfangen, an der Ecke der 110. Straße – in eine cool-spielende Haltung hineinbegeben hatte, war es ihm noch ganz wohl & temperiert erschienen (sein Instrument). Selbst der Zwerg, der ihn betäubt und (samt Instrument) in die Nebelwehen dieses Lager geschleift hatte, war nicht umhingekommen, sein Spiel „adäquat“ zu nennen, vorgestern, als er ihm (dem Aufseher) – der Anweisung „Spiele!“ Folge leistend – über die Weite eines Rindenmulchwegs hinweg entgegengeschlendert war, vorgestern, noch ehe man ihm die Haare geschnitten, Harlekinkleider geliehen und zu essen gegeben hatte.
Erst jetzt, da er – wiederum der Anweisung „Spiele!“ folgend – den notierten Bahnen der Komposition nachdrängte, die ihm aus den Händen der zwei Meter großen Dirigentin, vor Minuten erst, entgegengeblättert waren, just nachdem Maskierte ihn der harzigen Stickigkeit dieser Stube, der „Stube der Philharmonie“ ausgesetzt und, simultan, Myriaden von Orchestermusikern sich, flicker-flicker, Zigaretten und kleine Pfeifen angezündet hatten; erst jetzt, da er die Käferbäuche und -beine der Partitur in Musik übersetzte, empfand er, dass etwas nicht stimmte, mit dem Klang seines Instr–
„Aufhören!“ Die Dirigentin sprang empor. Einer Gazelle gleich aus der Tiefe des Orchestergrabens und mit den Armen fuchtelnd in den Schein einer Lampe. „Beim Barte Dvořáks! Wen haben sie mir hier … hast du nicht vorspielen müssen?“
Sun ließ den Melodiefaden reißen, schluckte Mundstückgeschmack. „Er hat …“
„… dich für adäquat befunden, der Aufseher, … tatsächlich?“
Hohngelächter.
Sun presste die Finger gegen die weiche Außenhaut des Instruments, so als umhülle sie, stattdessen, einen gigantischen Staffelstab, den er irgendwann zu übergeben hätte. Das sei das Orchester, hatte man ihm gesagt, er solle den Posaunisten ersetzen, dessen Versuch, (über eine Art von Tunnel) zu fliehen, wie man hörte, entdeckt und mit Zerstückelung entsprechend blutig gesühnt worden wäre. Jetzt, während das Hohngelächter nicht abreißen wollte, stiegen auch Sun Fluchtgedanken auf, obschon er, bis eben noch, vermeint hatte, dass das Lager, wo man ihm zu Essen gab (Gebratenes, sogar Süßigkeiten), musizierte und fließend’ Wasser bereitstellte, der Tyrannei der Straße auf gewisse Weise vorzuziehen sei.
„… tatsächlich?“
Doch dann (wie immer aus einer Ecke her dringend; doch noch) die Fistelstimme der Ratio: „Es ist nicht der Junge!“
Die -rigentin stieg augenblicklich darauf ein. „Ich weiß“, sagte sie und ihre Züge entspannten sich. „Es sind die Dämpfe, die, von den Quellen her dringend, …“
„… das Lager …“, warf jemand dazwischen, „… in ewigen Nebel hüllen …“
„… und …“, schloss ein alter Mann mit offenem Kehlkopf, „… die Instrumente verstimmen.“
Die -regentin nickte. Er müsse Shui-Ta, den Instrumentenbauer, aufsuchen, versetzte sie und „Ta, Ta, Ta,“, echo-te es, -peilend, (augenblicklich) von allen Seiten.
Sonst, fuhr die Regentin (die Hand hebend) fort, – wenn er das nicht hinbekäme mit dem Instrument –, werde man ihn (sie lächelte) … zu den Bovisterntern schicken!
Sun schauderte. Er hatte sie gesehen, die Menschen, die angehalten wurden, Körper und Hände durch die Gleba-Erde der Gewächshäuser zu schleifen, war froh gewesen, dass man ihn, stattdessen, dem Orchester zugeteilt hatte, dessen Aufgabe es war, die Boviste mit neuen Kompositionen zu beschallen, war froh gewesen, dass er sich doch, damals, in die mit Beizmitteln behandelten Stühle der Luchsäugischen gezwängt hatte, um, wenn auch nur für wenige Semester, unter den mottenzernagten Mantelschößen Mussorgskis, Musik zu studieren.
Wo er ihn finden könne, fragte er, diesen Ta.
Man reichte ihm eine von Tas Karten nach vorne.
Sie zeigte den schwärzesten Mann, den Sun je zu Gesicht bekommen hatte sowie ein Geflecht sich verzweigender Pfade, deren Beschriftungen jedoch derart parasigmatisch waren, dass Sun sich mehrmals (lautstark), kaum nach draußen getreten, nach dem Weg erkundigen musste. Eine Frau mit Beinprothese fragte ihn schließlich, nachdem er Hunderte von Kilometern zurückgelegt zu haben vermeinte, ob er zu scherzen beliebe?
„Warum?“
„Warum? Warum?“, äffte sie ihn nach. Weil er direkt davorstehe, deshalb.
„Ach, das ist …“, begann Sun, aber da war die Frau bereits fortgestürzt und verschwunden.
… Tas Werkstatt.
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