Novelle

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Die Seltsamkeitsforscherin

Von Maria Matheusch.

„Was genau, sagten Sie, Frau Khachin, seien Sie von Beruf?“

„Ich bin Seltsamkeitsforscherin“, erwiderte sie dem Arbeitsmarktberater in beinahe akzentfreiem Deutsch.

„Aha“, quittierte Herr Staubrat kehllos ihre knappe Auskunft.

Seine Stimme klang dabei in keinster Weise nach einem erhellenden Aha-Erlebnis und sein Blick suchte zum offenen Fenster hinaus, als könnte dort draußen die Erklärung vorbei-fliegen. Er schwieg eine Zeit lang. Vom Draufluss her kreischten und lachten die Möwen. Er musterte sein Gegenüber sorgfältig.

„Hmm. Seltsamkeitsforscherin.“

Es folgte wieder eine längere Pause. Genauso gut hätte sie ihm auch „Ich habe Vollzeit als Xocholatimeti gearbeitet“ zur Antwort geben können. Während seiner gesamten fünfundzwanzig Jahre Berufserfahrung in der Arbeitsvermittlung war ihm so etwas Eigenartiges noch nie untergekommen. Er suchte nach einer Erklärung und fand:

① Eh klar, diese Ausländer, können sich nicht richtig ausdrücken → seine Miene verfinsterte sich

② Er hat sie nicht richtig verstanden → seine Miene blieb finster

③ Die nicht mehr ganz junge Frau verarscht ihn gewaltig → zorniges Karminrot überzog sein Gesicht

„Das gibt es bei uns hier in Österreich nicht. Womit in etwa könnte Ihr Metier gleichgesetzt werden?“, brummte er schließlich.

Tamara Khachin dachte über seine Frage nicht einmal nach. Es war lächerlich, mit solch einer unbedarften Idee der Nichtexistenz überhaupt konfrontiert zu werden.

„Hören Sie“, entgegnete sie mit genervtem Unterton, „wenn es einen in etwa gleichgesetzten Beruf geben würde, dann würde ich mich folglich ´In-etwa-Seltsamkeitsforscherin´ nennen. Meinen Sie nicht auch? Würden Sie mit dieser Bezeichnung mehr anfangen können?“

Stille.

Sie hatte dreimal hintereinander, scheinbar gänzlich unbewusst, das Wort „würde“ gebraucht. Es handelte sich hierbei rein grammatikalisch betrachtet um eine klein-geschriebene und auf eine Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit verweisende Formulierung. Kein normaler Mensch in Österreich machte sich über so etwas großartig Gedanken. Vielleicht würde gerade mal ein eifriger Deutschprofessor mit Rotstift das Wiederholungszeichen an den Textrand eines korrigierten Schulaufsatzes malen und diese unbeholfene Replik unterkringeln. Vielleicht würde es auch einem geistlichen Würdenträger auffallen. Nicht so Tamara. Sie stellte permanent überaus komplexe Zusammenhänge auch im vermeintlich Bedeutungslosem fest. Die Seltsamkeitsforscherin hatte bereits im Zuge ihrer Antwort wahr genommen, welch bedrückenden Einfluss das unpersönliche Arbeitsamtsgemäuer auf ihren Gemütszustand ausüben wollte und wie instinktiv-automatisch ihr verbales Abwehrprogramm hochgefahren worden wurde. Ihre dreifache Wiederholung des Wörtchens würde in einer ansonsten stets stilistisch fein geschliffenen Syntax war nicht aus Schlamperei sondern vielmehr aus systemimmanenter Kohärenz zur Umgebungssituation erfolgt. Sie signalisierte gleichsam wie ein rotes Warnschild die unausgesprochen eigenartige Diminuierung von Ansehen und Selbstachtung, die hinter aufgetürmten Formularbergen um sich griff.

„Kommen Sie mir bloß nicht unverschämt!“, verwehrte sich der Berater gegen Tamaras Offensive.

Diese aber – verärgert von dem autoritär kommentierendem Staubrat aus ihren intensiven Überlegungen und Schlussfolgerungen betreffend würde gerissen zu werden – baffte zurück: „Geschätzter Herr Staubrat, der Beruf der Seltsamkeitsforscherin ist, wie ich es schon eingangs bekundet habe, mit rein gar nichts zu vergleichen. Nicht einmal annähernd. Der Werdegang und die berufliche Praxis sind ebenso kompliziert und exklusiv wie der Weg zum Tonleiterkonstrukteur. Aber ich nehme an, dass Sie über diese Profession bestimmt auch noch keinerlei Kenntnis erlangt haben.“

Sie artikulierte ihre Bemerkung mit einer Bissigkeit, die implizierte „Sie armseliger Steinzeitler, aus welcher Höhle hat man Sie denn an den Schreibtisch gesetzt?“ und die von ihm keinerlei Response erwartete.

Es folgte tatsächlich eine längere Stille.

Tamara kaute weiter an der spezifischen Bedeutsamkeit des klein-geschriebenen Wörtchens würde. Klein-geschrieben offenbarte sich ihr immer deutlicher der direkte Bezug des Hilfsverbs zur Tristesse, der viele der Arbeitssuchenden, mit denen sie vorhin im Wartesaal angeregt diskutiert hatte, anheim-zu-fallen drohten. Ihr unersättlicher Forschergeist hatte sie unversehens just hier im Büro des Arbeitsmarktservices gepackt: Alle erdenklichen Verknüpfungen herzustellen zwischen Außenwelt und Innensicht, die zahllosen Aktions- und Reaktionsketten naturwissenschaftlicher und humanspezifischer Kohärenz zu eruieren, dem galt die ganze Leidenschaft ihres beruflichen Feuers.

„Also“, schlussfolgerte sie laut über den Grund der von ihr unbewusst gewählten dreimaligen Wiederholung des konjunktivistischen würde, „es ist überaus berechtigt, anzunehmen, dass die Würde, dieses Nomen, das linguistisch betrachtet natürlich in keinerlei Zusammenhang mit dem von mir verwendeten Verb würde steht, im Zustand der Beschäftigungslosigkeit kontinuierlich an Wert verlieren kann. Gegen diese wahrscheinlich eintretende Herabstufung wehrt sich das Unbewusste, das ja bekanntlich in der Lage ist, aus vergangenen Erlebnissen auf kommende zu schließen, bereits im Vorfeld mit einer sprachlich adäquaten Reaktion. Es stellt in diesem Falle quasi ad hoc Würde in den Raum, ohne sie direkt anzusprechen. Wenn es nun allen an der Kommunikation Beteiligten gelingen sollte, diese seismografisch erahnbare potenzielle Gefährdung ins reale Tagesbewusstsein zu holen, dann würde dieser heilsame Vorgang, der sich sozusagen in diesem Moment nur im feinstofflich unbewusst wirkendem Segment des reinen Ausdrucks wiederspiegelt, zur selbsttätigen Wiederherstellung einer umfassenden Integrität aller am Interaktionsprozess beteiligten Personen führen, ohne dass darüber lange diskutiert werden müsste.“

Herr Staubrat starrte stockstumm zur monologisierenden Frau Khachin. Schwer zu sagen, ob er versuchte, ihren Gedankengängen zu folgen oder ob er sich um 08:25 Uhr bereits auf seinen Dienstschluss um halb fünf freute.

Tamara, ganz in ihrem Element, resümierte ungebremst weiter: „Wie ich also erkannt habe, verhält es sich in Österreich nicht so. Obwohl ich erst seit Kurzem im Land bin, vermute ich einen direkten Zusammenhang mit dem hier vorherrschenden Werteverständnis. Hochinteressant. Ich werde umgehend einen fachwissenschaftlichen Artikel zu dieser Thematik verfassen und im international renommierten Magazin GEIST & KRANK zur Veröffentlichung einreichen.“

Herr Staubrat schluckte. Hatte er es mit einer Irren zu tun? Vielleicht sollte er besser schleunigst sein Büro verlassen? Die Polizei rufen? Aus seiner verdutzten Gebanntheit erwacht bat er vorsichtig: „Geschätzte Frau Khachin, Sie haben bestimmt etwas Schriftliches für mich dabei? Ein Schulzeugnis, einen Lehrabschluss, vielleicht auch Ihren letzten Dienstvertrag?“

Wenn er es wirklich mit einer Verrückten zu tun hatte, dann musste er sehr vorsichtig mit ihr umgehen. Sie mit Höflichkeit und Wertschätzung behandeln, damit sie nicht ausrasten würde. Er sah schon die Schlagzeile in der Tageszeitung: Arbeitsmarktservicemitarbeiter von Wahnsinniger auf Drehstuhl entführt. Verflixt noch einmal, schon wieder dieses gerade überstrapazierte Wort würde, schoss es ihm durch den Kopf.

Sie reichte ihm die exakt geordneten Papiere über den Tisch.

Zweifelsohne: Frau Tamara, Alexandra, Jeanette Khachin, geboren am 02.12.1958, hatte in ihrem Heimatland erfolgreich die siebenjährige Ausbildung zur Seltsamkeitsforscherin absolviert und gleich im Anschluss über dreißig Jahre für ein und dasselbe Unternehmen gearbeitet. Das umfangreiche Zeugnis, nicht nur in ihrer Landessprache, sondern auch auf Englisch und Deutsch ausgestellt, lobte Frau Khachin als überaus kompetent und betonte, sie sei landesweit die einzige und unangefochtene Spezialistin auf diesem schwierigen Terrain, das bislang nur reine Männerdomäne gewesen sei. Fünf bunte Stempel und ein rotes Wachssiegel an einer kunstvoll gezwirbelten Kordel beglaubigten das Schriftstück.

„Hmm. Hmm. Hmmmmm.“

Das hieß nicht, dass Herrn Staubrat diese Lektüre auch nur ein kleines bisschen zu Frau Khachins bisher ausgeübter Tätigkeit erhellt hätte. Das Einzige, das er 100%ig sicher heraus gelesen hatte: Sie war im Auftrag ihres Unternehmen kreuz und quer durchs Land gereist. Aber dieses Tätigkeitsmerkmal traf auch für Handelsvertreter, Lokomotivführer oder Mysteryshopper zu. Welcher Berufssparte sollte er die Endfünzigerin letztendlich hier in Österreich zuordnen? Und vor allem, welchen Kurs konnte er ihr antragen? Die Zeugnisse, das zehnseitige Arbeitgeberkonvolut gaben null konkreten Hinweis. Aber halt! – Ihr Geburtsdatum! Das stand ja 02. 12. 1958. Seppi Staubrat widerfuhr ein Heureka der beglückenden Art: Dieser verworrene Fall Khachin ging ihn gar nichts an. Seine Klienten waren die zwischen dem 01.01. und 12.02. Geborenen. Das komplizierte Dezemberkind gehörte eindeutig zum Kollegen Klausl. Gott sei Dank für diesen rettenden Zahlendreher! Da hatte ihm die elektronische Datenverwaltung einen bösen Streich gespielt und diese Tamara ausgerechnet zu ihm in die Beratung gelotst.

„Leben marschiert verschlungen-seltsame Wege“, zuckte Frau Khachin ungerührt mit den Schultern, als ihr Seppi Staubrat, seit einer Stunde zum ersten Mal lächelnd, erklärte, sie sei im falschen Büro und müsse eine Tür weiter gehen auf ZiNr 207 zum Kollegen Klausl. Sie hatte jedoch bereits am Vortag vom AMS eine SMS erhalten, worin stand: Gspch m Klasl wg Krnkh af Stabrat ugebu.

Staubrat aber, der darüber nicht informiert worden war, wählte die Nummer seines Kollegen an, wollte die Kundin so rasch wie möglich loswerden, doch sein Anruf landete in der Vermittlungszentrale.

„Nein, Herr Klausl ist heute nicht zu sprechen. Er ist auf längere Zeit erkrankt. Wir haben seine Fälle unter allen diensthabenden Beratern aufgeteilt. Die erste Dame sollte bei Ihnen bereits um acht Uhr eingetroffen sein, eine gewisse Tamara Khachin“, lautete die Antwort, obwohl Staubrat noch gar keine Frage gestellt hatte.

Das Gespräch war zu Ende. Der Berater umklammerte den Telefonhörer wie ein Ertrinkender ein dürres Ästchen.

„Liebe Frau Khachin“, würgte er endlich hervor, „im Moment gibt es leider keine offene Stelle bezüglich Ihrer überragenden Qualifizierung. Ich mache mich schlau, ob eine Umschulung oder eine Weiterbildung für Sie infrage kommen könnte.“

„Das ist sehr nett von Ihnen.“ lächelte ihm Tamara siegesbewusst zu.

„Vielleicht finden Sie für mich einen Kurs zur Wichtigkeitsvermesserin oder Nichtigkeitsverwahrerin oder zur Dringlichkeitsverwechslerin. Das hätte mich schon immer interessiert und würde meinen Erstberuf prima ergänzen.“

„Kommen Sie am besten nächste Woche wieder in mein Büro“, beschied Herr Staubrat und hoffte inständig, am Sonntag so richtig ordentlich im Lotto zu gewinnen.

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