Von Olga Baumfels.
Er hatte sich aus einer Laune heraus auf die Stelle beworben. Nicht, dass er seine Arbeit im Orchestre des Nuages nicht liebte – besonders bei den dramatischen Stellen, wie der Vertreibung von Adam und Eva, dem Fall von Jerichos Mauern oder des World Trade Centers, der Pulverisierung des Fixsterns Malumnus IV, lief er mit Genuss zu Höchstform auf – doch er trug nun schon seit Jahrzehnten mit seinem Trompetenspiel dazu bei, den Weltenlauf zu vertonen und den für schlichte Gemüter (zu denen er sich zählen musste) oft unverständlichen und grausamen Geschehnissen im Universum Schönheit abzuringen. Und war Abwechslung nicht das Salz in der Suppe des Lebens?
Sorgfältiger als gewöhnlich brachte er sein äußeres Erscheinungsbild auf Vordermann, überprüfte die Bügelfalten seines Gewands, kämmte die wallenden Haare und die leicht zerzausten, da lange nicht mehr genutzten Federn seidenglatt.
Es ging informeller in der Empfangshalle zu, als er angenommen hatte. Da er den Boss bisher immer nur medial gefiltert oder von ferne erlebt hatte, war er von angespannter Erwartung erfüllt. Endlich würde er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen! Ein jedes Individuum dachte ihn sich anders. In seiner Vorstellung war er ein überwältigender, aufwühlender, immerwährender Schlussakkord einer Sinfonie, der nur dann moderater wurde, wenn er mit den Einzeltönen kommunizieren musste. Wie unendlich enttäuscht er war, als er schließlich einem bleichen jungen Mann mit gegelter Haartolle und schwarzer Dickrandbrille gegenüber saß, der an einem stylischen Stahl-Glasschreibtisch kauerte, auf dem sich etliche digitaltechnische Apparaturen drängten.
„Der neueste Schrei da unten auf dem blauen Planeten“, erklärte er junge Mann lächelnd, als er den irritierten Blick seines Besuchers registrierte. „Damit komme ich besser zurecht als zum Beispiel mit der Retrophil-Technik der Alpha-Zentauren.“
„Aha? Hm. Sind Sie, äh, seid Ihr wirklich … oder ist das hier nur das Vorzimmer …”
“Natürlich bin ich es! Was für eine Frage. Bist du etwa ein verdammter Ungläubiger?”
“Aber nein! Ich meine doch nur …”
“Willst du vielleicht ins Souterrain strafversetzt werden, um Luzifer Gesellschaft zu leisten?”
“Nein! Es ist bloß … also, ehrlich gesagt hatte ich immer ein ganz anderes Bild von Euch im Kopf, oh Herr!“
„Du sollst dir ja auch kein Bildnis machen! Was du hier wahrnimmst, ist natürlich nur eine meiner angenommenen Formen, du Einfaltspinsel“, erklärte der junge Herr knapp, nachdem er wenig würdevoll die Augen verdreht hatte. „Kommen wir zur Sache. Was glaubst du, macht dich besonders geeignet für den angebotenen Posten?“
„Nun, ich bin fleißig, ausdauernd, diszipliniert, pünktlich …“
„Jaa doch, das sind sie alle. Angeblich. Irgendwelche besonderen Qualifikationen?“
„Ich bin Künstler. Musiker, genauer gesagt Ich kenne mich hervorragend aus in Kompositionslehre und verfüge über ein ausgeprägtes dramatisches Empfinden. Ihr denkt jetzt möglicherweise, vielleicht wäre ein Schriftsteller ja geeigneter für den Posten, aber …
„Nee, nee, denke ich nicht. Schriftsteller tendieren dazu, zu anspruchsvoll und sinnsuchend zu sein hinsichtlich des Plots. Aber sorry, ich habe dich unterbrochen.“
„Kein Problem! Ich bin zudem immer offen für neue Entwicklungen und …“
„Bist du auch offen für Abenteuer?“
Des jungen Herrn Augen glitzerten gefährlich.
„Äh, ja, durchaus.“
„Hast du Sinn für Humor? Möglichst auch für schwarzen und bizarren Humor?“
„Mit Verlaub, ist das nicht eher die Domäne der Konkurrenz?“, fragte der Bewerber verunsichert.
„Das ist ein typisches Klischee moderner Erdenliteratur, eines von jenen Klischees, die überhaupt nicht den Tatsachen entsprechen. Du solltest den da unten mal erleben, wenn er seine dunkle Haube mit den Augenlöchern überzieht und zu Hochform aufläuft. Bierernst nimmt der seine Aufgabe. Jeder Handgriff sitzt perfekt, alles Präzisionsarbeit. Wehe, der bestrafte Sünder reagiert anders als er beabsichtigt hat, dann flippt er aus und zweifelt an sich selbst. Ich für meinen Teil sehe das alles sehr viel entspannter. Muss doch auch ein bisschen Spaß machen, das ganze Weltentheater!“
„Unbedingt! Und ein lockerer Chef ist was Feines. Belebt die Arbeitsatmosphäre ungemein. Oder nicht?“, lobte der Bewerber halbherzig.
Der Herr legte sinnend den Kopf schief und nickte dann halbherzig.
“Die ‘Arbeitsatmosphäre’, ja, in der Tat …”
„Wie genau sieht das Procedere im Arbeitsalltag denn überhaupt aus, oh Herr? In der Annonce, die Ihr im Götterboten veröffentlicht habt, stand nur geschrieben, dass …“
„Hey, du kannst mich duzen, okay? Von wegen Lockerheit und so. Ehrerbietungsrituale sind ja wirklich entbehrlich für jemanden mit soviel Macht, wie ich sie ausübe.“
„Oh … danke!“
„Komm her, setz dich mal neben mich an den Compi.“
Der Bewerber faltete seine Flügel eng zusammen und zog sich einen zweiten Schreibtischstuhl vor den Computer. Mit ehrfürchtigem Unbehagen nahm er neben dem Herrn Platz.
„Die Sache ist die: Mir wächst die Mühsal des Weltgeschehenmachens momentan mal wieder über den Kopf. All die belebten Welten im All mit Ereignissen zu beliefern schlaucht gewaltig. Ich habe diesen Task schon früher gelegentlich abgeordnet, für die Erde zum Beispiel an die Nornen mit ihren Schicksalswebstühlen und -spinnrädern, oder an Fortuna mit ihrem Rad. Aber derart primitive Techniken sind natürlich total out. Heute machen wir das mit einem Plotgenerator.“
Der Herr schaute seinen potentiellen Mitarbeiter erwartungsvoll an. Der stammelte, sichtlich überfordert: „Okay? Ein was? Könntet Ihr … ich meine … könntest du mir das näher erklären?“
„Klaro.“ Der Herr klickte und touchte eine Weile vor sich hin und öffnete schließlich ein Fenster. „Es gibt dafür spezielle Programme im WWW der Erde, aber ich habe eine viel lustigere und unanstrengendere Methode kreiert.“
Er gab eine Anzahl Short-Cuts ein, vergrößerte den Bildschirm ins unendlich erscheinende und ließ Tausende von Web-News neben- und untereinander auftauchen.
„Schau her, das ist gestern auf der Erde passiert. Dort leben übrigens die unterhaltsamsten, da widersinnigsten Geschöpfe, die ich je schuf. Die haben sich fürwahr sehr seltsam weiterentwickelt. Ich frage mich seit langem, ob es weise war, ihnen im groben Rahmen des Schicksals Raum für eigene Feinentscheidungen zu gewähren. Die Kombination war offenbar unverträglich und das Experiment ist etwas aus dem Ruder gelaufen.”
Das bleiche, nichtssagende Gesicht des jungen Herrn transformierte vor den Augen des Bewerbers zu einem charaktervollen Greisenantlitz mit denkfaltengerunzelter Stirn und schlohweißem Rauschebart. Der Engel blinzelte und kniff kurz die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, spielte ein höhnisches Grinsen um die Lippen des jungen Herrn.
“Wie dem auch sei: Du wirst künftig für das Schicksal nur dieses einen Planeten zuständig sein, kapiert? Ich will meine Belegschaft ja nicht ausbeuten. Zudem lasse ich diese unsere Begegnung im Erdenmodus stattfinden, da so was wie Engel auf den anderen belebten Planeten unbekannt sind. Also, du kombinierst die Nachrichten von heute mithilfe eines Eventmixgeräts neu, überarbeitest das Ergebnis ein wenig, um die gröbsten Ungereimtheiten und schlimmsten Abstrusitäten auszumerzen, und schwupps, hast den Schicksalsplot für morgen geschaffen.“
Der Engel starrte ungläubig auf den Bildschirm.
„Verstehst du nicht? Also gut, Mann, ich gebe dir ein illustrierendes Beispiel aus dem Bereich Marginalien. Die scheinen den Menschen besonders wichtig zu sein. Heute, 18.10.2016 Erdenzeit, war Folgendes aktuell:
Andrea Berg: Warum der Schlagersängerin bei ihrem Auftritt die Tränen kamen – Bob Dylan: Ist ihm der Nobelpreis egal? – Bauer sucht Frau: Landwirte landen zusammen im Bett – Tierkomik: Walbaby spritzt Touristen nass – Unsere schöne Welt: Die gruseligsten Orte der Erde.
Kannst du das im Kopf behalten?”
Der Engel nickte stumm.
“Morgen wird aktuell sein: Warum Andrea Berg Touristen nass spritzt – Bob Dylan landet mit Landwirt im Bett – Nobelpreis von Walbaby verschluckt: Bauer kommen die Tränen – Die gruseligsten Orte der Erde: Wo Andrea Berg Bob, dem Baumeister, unter Tränen den Nobelpreis verleiht.“
Der Bewerber konnte sein Befremden nicht verbergen.
„Hach, bist du ein kritisches Engelchen! Oder hier, ein Beispiel aus dem Bereich Politik. Heutige Nachrichten: Rot-grüne Lockerungsübungen: Erste Hürde für Rot-Rot-Grün überwunden – Neuannäherung: Kanzlerin Merkel empfängt Putin – Erdogan droht der EU erneut: Ende des Flüchtlingsdeals – Melania Trump verteidigt ihren Ehemann: “Er wurde angestachelt, dreckige Sachen zu sagen“ – Grüne wollen Superreichen ans Geld.
Das soll zur Illustration erst mal genügen. Morgen wird Folgendes geschehen:
Erdogan verteidigt Kanzlerin Merkel: Sie wurde angestachelt, dreckige Sachen zu sagen – Grüne wollen Putin ans Geld, der droht mit Lockerungsübungen – Trump steht zu seiner Ehefrau: Melania dealt mit Flüchtlingen, na und? Und hier ein Supermix: Erste Hürde überwunden: Putin stachelt Trump an, rot-grünen Superreichen Lockerungsübungen für politischen Hürdenlauf zu spenden.”
Der Engel schwieg betreten. Etwas hektisch fuhr der Herr fort:
„Oder im Bereich Drama: Rajasthan: Mutter ertränkt 3 kleine Kinder in Regentonne – Brasilien: 6 Tote bei Massenkarambolage mit Faultier auf Autobahn – Italien: 12 weitere Vermisste nach Explosion in Kondomfabrik des Vatikan – Kolumbien: Drogenkrieg: 24 ermordete Drogenbosse in Tulpenbeet gefun …“
Niemals hätte der Engel eine kritische Bemerkung gewagt, unterbrach jedoch in aller Höflichkeit: „Würdet Ihr … würdest du tatsächlich auch in der … Kategorie Drama und Tragödie schwarzen Humor von mir erwarten?“
Der junge Herr räusperte sich eine Spur verlegen.
„Nein, nein! In dem Bereich kannst du schwarzen Humor meinetwegen außen vor lassen. Pietäthalber.“
“Gut. Aber was ist mit den unauffälligen Lebensläufen der Heerscharen von Menschen, die es nicht bis in die Nachrichten schaffen?”
“Oh, die bedienen wir im Wesentlichen mit dem gleichen Programm, ergänzt durch ein Schicksalsvervielfältigungs-Tool und eine Dramatik-Verwässerungs-App. Anders kommen wir mit der Arbeit gar nicht hinterher.”
“Aber … das ist doch alles … “
“Jaaa, ich gebe zu, manchmal entwickelt sich das Weltgeschehen mit diesem Plotgenerator fürwahr ein wenig exzentrisch, um es milde auszudrücken, aber auf die Art garantieren wir zumindest Jobsicherheit für Philosophen, Wissenschaftler und Seltsamkeitsforscher aller möglichen Welten.”
Der Engel hatte nach wie vor herbe Zweifel und zog seine Bewerbung nach kurzer Bedenkzeit zurück. So hatte er sich die Schicksalsproduktion wahrlich nicht vorgestellt! Er stammelte einige inkohärente Begründungen seines Rückzugs, in denen hehre Worte wie Moral und Ethik, Erhabenheit und Mitgefühl, Gut und Böse die Hauptrolle spielten, überzeugte den Herrn aufgrund mangelnder Rhetorik und stringenter Argumentation jedoch nicht.
“Komm mir bloß nicht mit Gut und Böse! Ich bin es Leid, endlos über Definitionen und Grauzonen, Subjektivität und Vorherbestimmung nachzudenken!”
Der Engel öffnete den Mund zu einer Entgegnung, schloss ihn aber vorsichtshalber wieder.
“Du weißt, ich könnte dich auch zwingen, den Job zu machen”, erwiderte der Allmächtige mit plötzlich eiskalter Stimme, und was der Engel in seinen Augen sah, brachte ihn zum Zittern.
“Hahaha, keine Panik, nur ein kleiner Scherz! Hast du vergessen: Ich bin nicht nur allmächtig, sondern auch allgütig.”
Wieder zu Hause blies der Engel mit solcher Hingabe und Inbrunst in seine Trompete, dass nicht nur die neu aufgebauten Mauern von Jericho bedenklich schwankten. Und während er sich verausgabte, kam ihm der Seelenheil rettende Gedanke, dass ein Hochstapler mit rabenschwarzem Humor sich einen verteufelt schlechten Scherz mit ihm erlaubt haben musste.
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