Von Peter Lersch.
Es herrschte eine bedrückende Stimmung in dem extra für die Pressekonferenz ausgewählten und mit unauffälliger Dekorierung versehenden Raum im Polizeirevier, so als wäre die Luft im Raum unter den Türspalt hindurch über den Gang hinaus ins Freie geflüchtet. Jemand schnappte nach Luft, als Polizeikommissar Maurer, in Gefolgschaft eines mürrisch dreinblickenden Pressesprechers, der neben ihm den Platz eingenommen hatte und sich nun am Bart zupfte, das Ergebnis der Suche vorstellte. Jemand von der Presse schoss ein Foto der beiden Männer, denen man Wasserflaschen, eine Tasse Kaffee und Namensschilder vor die vor Verlegenheit ineinander gefalteten Hände gestellt hatte. Maurer rückte die randlose Brille auf der Nase zurecht und blickte nachdenklich zur Decke und gemächlich und mit wohl überlegten Worten, die anfangs mühsam dann immer schneller in Fahrt kamen, begann er zu sprechen, und für die Zuhörer in der ersten Stuhlreihe schien es, als genieße er die heilige Atmosphäre in dem kleinen nach Kaffee und Teppichboden riechendem Pressezimmer.
„Wir haben den Sarg des Mädchens heute Morgen in einem Waldstück bei Gerresheim gefunden“, sagte Maurer und ergänzte sich wenige Sekunden später, „ – mit Sarg meine ich natürlich die Holzkiste, in der das Mädchen, nun, eigentlich hätte stecken müssen…“
„Was meinen Sie damit?“, fragte ein Journalist mit grau melierten Schläfen und einem dachsartigem Gesicht.
„Nun…“, begann Maurer zögernd. Der Moment, in dem er die Holzkiste geöffnet hatte, breitete sich vor seinem inneren Auge aus: das Kleid, das das Mädchen am Tag seines Verschwindens getragen hatte, hatte sorgfältig ausgebreitet im Inneren des Sargs gelegen – von dem Mädchen jedoch keine Spur…
Wie vom Erdboden verschluckt, dachte Maurer bitter lächelnd.
Midori…
„Wir haben den Sarg…die Kiste ausgegraben, und dort gefundene Beweisstücke dienen als Hinweis darauf, dass Midori Tanaka sich in der Kiste befunden haben muss…“, fiel Maurer der Pressesprecher ins ausbleibende Wort.
„Aber…?“, begann der Journalist erneut, ließ dann vom angefangenen Satz ab und verbat sich selbst den Gedanken an einen Kinderkörper, den man der Natur zur Verwesung überlassen hatte.
„Das Mädchen ist doch erst seit einer Woche verschwunden!“, rief eine Frau aus der hinteren Reihe, und Maurer, der sich angesichts der Ratlosigkeit schlecht fühlte, griff diesen Einwand als persönliche Beleidigung auf.
„Wir haben alles getan, was möglich war, um das Mädchen zu finden“, erwiderte der Kommissar mit ausgestreckten Handflächen. Jemand im Publikum lachte.
Maurer erinnerte sich mit all den anderen Anwesenden an das Mädchen Midori Tanaka, die am Freitag vor genau einer Woche als spurlos verschwunden gemeldet worden war…
Midori…
Maurer selbst nahm den Hörer ab, als das Telefon in seinem Büro klingelte. Eine Stimme, schrill, gespenstisch und von Tränen erstickt, rief immer wieder einen Namen: Midori…
Maurer war kurz darauf in seinen Dienstwagen gestiegen, eine unbeschreibliche Angst hatte seinen Körper durchfahren; er beobachtete seine angespannten Arme und die um das Lenkrad gekrallten Hände und fuhr anschließend in das Zentrum der Stadt.
Midori…
Midori Tanaka war das Kind eines japanischen Ehepaars, die auf der Immermannstraße in Düsseldorf, unweit vom Bahnhof, ein Restaurant betrieben. Das Mädchen, so erzählte der Vater in gebrochenem Deutsch, war fünf Jahre alt und hier in Düsseldorf geboren. Vater und Mutter, die sich auf Vermittlung ihrer Eltern kennen gelernt hatten, stammten aus der Präfektur Akita. Das Restaurant, das sie kurz vor der Geburt ihrer Tochter eröffnet hatten, erklärte ihm die Mutter des spurlos verschwundenen Mädchens, lief gut. Sehr gut sogar.
Midori…
Viele Gäste erinnerten sich an das kleine Mädchen, das bereits im Alter von drei Jahren sichtlich Spaß daran hatte, den Gästen kleine Schüsseln oder die Essstäbchen und Löffel, das Besteck, das ihr ihre Mutter in die Hände gelegt hatte, mit vorsichtig tappenden Schritten an den Tisch zu bringen.
Ein Lächeln zauberte sich auf die Gesichter der Gäste; selbst diejenigen, die mit düsteren Gedanken und von der Arbeit gequält das Restaurant betreten hatten und nun grimmig vor einer Schüssel Ramen und einem frischgezapften Bier kauerten, fingen unweigerlich an zu lachen, wenn sie das kleine Mädchen erblickten, das schwankend die Schüsseln, die ihr die Mutter zuvor in die bereitwillig ausgestreckten Handflächen gebettet hatte, an den Tisch brachte.
Midori, das kleine Mädchen, hatte etwas besonderes, etwas, was man nicht in Worte fassen konnte, dachte der Polizeikommissar, der selbst ein zwei Mal Gast gewesen war in dem nach Holz und Sojasoße duftendem Restaurant auf der Immermannstraße. Auch er hatte das Mädchen gesehen, wie sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht den Eltern half, die Schüsseln an den Tisch zu bringen, wo sie bereits die Gäste mit einer kaum zu beschreibenden Vorfreude erwarteten.
Midori…
Und auch er, Maurer, hatte das unweigerliche Verlangen gespürt, dem Kind über den schwarzen Haarschopf zu streichen.
„Setzen Sie die Ermittlungen fort?“, riss eine Stimme den Kommissar aus seinen Träumen. „Ist der Fall damit beendet?“
„Nun…“, begann der Pressesprecher. „Wir suchen natürlich nach weiteren Hinweisen…Indizien…die uns helfen…und für Hinweise aus der Bevölkerung sind wir…“
„Ich habe Polizeikommissar Maurer angesprochen“, unterbrach der Mann den geisterhaften Monolog. Der Mann erhob sich nun vom Stuhl und fixierte Maurer mit seinen durchdringenden Blicken.
Ein Schweigen erdrückte die sinnlosen Worte des Pressesprechers, der statt zu sprechen nun hilfesuchend den Polizeikommissar anblickte. Maurer wurde bewusst, dass alle Augenpaare hier und jetzt auf ihn gerichtet waren.
Und nach einer Weile unerträglicher Unbestimmtheit, die in der muffigen Luft des kleinen Presseraums lauerte, flüsterte der Polizeikommissar Maurer: „Das ist die Auflösung.“
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