Von Giorgi Ghambashidze.
Es ist das Begräbnis meines Vaters. Alle Mitglieder des Firmenvorstands, den ich seit seinem Rücktritt leite, sind mit bedrückten, ehrerbietigen Mienen erschienen.
Der Pastor ist mit seinem abgedroschenen Gebet bald fertig. Ich sollte eine Grabrede halten, aber überlege es mir jetzt anders. Ein dicker Mann aus der Finanzabteilung will unbedingt ein paar nette Worte sagen. Er stellt sich kurz vor. Er ist offensichtlich nervös. Mit einem seidenen Taschentuch tupft er die Schweißperlen von der flachen Stirn ab. Er stellt ein Jammerbild dar. Ich schäme mich seiner und überhöre seine Floskel.
Ich schaue mir den Mahagonisarg meines Erzeugers genauer an. Er glänzt blendend. Ich wende meinen Blick ab und lasse ihn über die kleine Menge der Anwesenden schweifen, bis ich ein mageres Gesicht erblicke, das ich hier nicht erwartet habe. Mein Bruder steht hinter den anderen und starrt den Sarg an. Ich spüre Angst in der Düsternis seiner tief in den Höhlen liegenden Augen. Seine Mundwinkel sind verzogen. Überhaupt, sein Gesicht sieht wie eine Maske aus. Ich rühre mich nicht vom Fleck.
Der Sarg wird langsam herabgelassen. Die Seile knarzen vor Anspannung. Die letzten Beileidsbezeugungen hallen in meinen Ohren wider. Alle setzen sich in Bewegung und verschwinden allmählich.
Man fängt an, die Grube mit einem Minibagger zuzuschütten. Zu meiner Enttäuschung steht mein kleiner Bruder, Philip, wie angewurzelt noch da. Jetzt starrt er mich an. Seine Augen sind schwarz wie Kohle in der Nacht. So stehen wir eine Weile.
Es ist ein kleiner Erdhaufen auf dem Grab entstanden. Langsam gehe ich auf ihn zu. Er wirkt angespannt, aber er schaut mir weiterhin direkt in die Augen. Sein Kopf sitzt schräg, etwas zu rechten Seite geneigt. Ich stelle mich vor ihn. Er zuckt einmal. In meinem pulsierenden Schädel brummen Tausende von giftigen Vorwürfen, die ich ihm wie Messerstiche versetzen will, aber ich sage nur: „Komm mit.“
Er folgt mir wie ein geprügelter Hund.
Zum ersten Mal setze ich mich nach vorn zu meinem Chauffeur. Er versucht, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen, vergeblich. Ich schaue in den Rückspiegel. Mein Bruder, der brav allein sitzt, sieht wie ein Halbtoter aus, aber ich empfinde kein Mitleid für ihn.
Wir fahren zu mir. Ich bewohne eine Wohnung im dreizehnten Stock mit einem Whirlpool und tollem Stadtblick von meinem riesigen Balkon. Ich mache die massive Tür auf. Wir gehen rein.
„Willst du was trinken?“, frage ich ihn.
„Apfelschorle“, sagt er leise.
Mir fällt wieder ein, dass es sein Lieblingsgetränk ist. ‚Wie viele Details aus unserem gemeinsamen Leben habe ich noch vergessen?’, denke ich.
Er merkt, dass ich nachdenklich geworden bin, und mit einem gezwungenen Lächeln fügt er hinzu: „Natürlich nur, wenn du welche hast.“
Ich schalte den Fernseher an und gehe in die Küche, die vom Wohnzimmer nur durch eine halbhohe Wand getrennt ist. Während ich mir den doppelten Whisky mache, der mir immer gegen die Kopfschmerzen hilft, höre ich mir die Neuigkeiten der Börse an. Plötzlich wird es still. Ich drehe mich um. Er hat den Ton ausgeschaltet und schaut zu mir, anscheinend willens zu sprechen.
„Es ist schon erstaunlich, dass die mit der gleichen Miene über den Tod der Myriaden von Menschen und über Ökonomie berichten. Immer dieses entmenschlichte Gesicht.“
„Mach den Ton wieder an, ich will es hören!“
Er gehorcht.
Mit meinem Whisky in einer und mit seiner Apfelschorle in der anderen Hand, gehe ich auf ihn zu und stelle sein Glas auf das Holztischchen vor ihm. Dann nehme ich einen Schluck und schiebe die gläserne Schiebetür meines Balkons zur Seite, um die milde Oktoberluft in den Raum reinzulassen.
„Du wolltest bestimmt wieder Geld vom Vater, aber du hast ihn etwas verpasst, wie dir bereits aufgefallen sein dürfte“, sage ich unvermittelt, woraufhin er mich verletzt anschaut.
‚Ab jetzt musst du bei mir betteln, aber du wirst nichts von mir bekommen!’, denke ich und ärgere mich über ihn, weil er in mir den Ansatz von Gewissensbissen zu erwecken versucht. Ich mache den Fernseher aus, werfe die Fernbedienung aufs Sofa und gehe auf den Balkon.
Er folgt mir. Erst jetzt merke ich, dass seine Sachen an ihm wie an einem Kleiderständer herunterhängen. Er ist ein wandelndes Skelett. Wir beide stehen schweigend an der Brüstung, die für ihn zu niedrig ist.
„Du hast jedes Recht so zu denken, aber dem ist diesmal nicht so“, sagt er auf einmal und wendet mir sein blasses Gesicht zu.
„Ist klar“, sage ich abwinkend.
„Vor einer Woche habe ich zum ersten Mal in meinem Leben von ihm geträumt. Er rief nach mir mit einer Stimme, die nicht wiederzugeben oder mit irgendetwas zu vergleichen ist.“
„Erzähl mir keinen Quatsch!“
„Ich wusste, dass ich ihn besuchen muss, aber ich hatte enorme Angst, was er bei meinem Anblick denken und mir sagen würde.“ Er atmet kurz durch und spricht weiter. „Erst heute habe ich gewagt, mich seinem Haus zu nähern, denn die Sorge um ihn wurde größer als der Schrecken vor unserer Begegnung. Kaum vernehmlich klopfte ich an der Tür. Keiner machte sie auf. Ich klopfte erneut. Da kam zufällig eine Nachbarin mit ihrem Hund vorbei. Sie sagte mir, wo ich ihn finde. So bin ich zum Friedhof gekommen, mehr tot als lebendig.“ Er ist fertig und schaut wieder über die Stadt hinweg.
Ich setze mich auf einen Flechtstuhl und nippe an meinem Glas. Ich glaube ihm kein Wort.
Meine Kopfschmerzen sind mittlerweile stärker geworden. Ich muss unbedingt den Druck ablassen.
„Ich bin echt froh, dass er dich nie wiedergesehen hat. Du hast sein Leben verbittert, zumindest durfte er in Ruhe sterben. Er hat alles für dich gemacht. Er wollte dir wirklich helfen, dich retten!“ Er hört mir aufmerksam zu. „Zwei Mal bist du aus der Entzugsklinik abgehauen. Du hast ihn belogen, beklaut und seinen Namen in Dreck gezogen. Er hat sich deinetwegen geschämt. Er konnte seinen Angestellten nicht mehr in die Augen schauen, nachdem du in dem Zustand in der Firma aufgekreuzt bist!“ Ich stehe ruckartig auf. „Das ist der wahre Grund, warum er mir die Leitung vorzeitig überlassen hat. Er ist ein stolzer und ehrenvoller Mann gewesen, aber das klingt für dich nach gar nichts!“, sage ich ziemlich laut und gehe in die Küche, um für Whiskynachschub zu sorgen. Ich verspüre seinen betrübten Blick in meinem Nacken. Mein Kopf ist etwas leichter geworden.
Mit halb vollem Glas in der Hand gehe ich Richtung Balkon, aber ich sehe Philip nicht mehr. Ich trete auf den Balkon in Erwartung, dass er sich in eine Ecke verkrochen hat, aber er ist nicht mehr da. „Was zum Teufel“, murmle ich leise vor mich hin. Mir stockt der Atem. So stehe ich eine Weile. Meine Hand zittert. Die Eiswürfel klirren im Glas. Langsam nähere ich mich der Brüstung und schaue auf den Hof hinab. Von dieser Höhe glaube ich eine Blutlache zu erkennen, in der er liegt.
Sofort werde ich von Erinnerungen gepackt, die mich wie wütende Vespen angreifen: Philip ist noch ganz klein. Er ruft mich aus seinem Bett, damit ich ihm eine Gutenachtgeschichte vorlese, denn unsere Eltern sind zu beschäftigt.
Er geht in die Schule und wird von seinen Klassenkameraden verprügelt. Er fragt mich, wie er sich wehren kann. Ich zeige ihm einen schnellen Kinnhaken.
Nach ein paar Jahren trifft er seine erste Liebe. Er möchte von mir wissen, wie er sich mit Mädchen zu verhalten hat, aber da arbeite ich schon im Betrieb unseres Vaters und habe keine Zeit für solche Belanglosigkeiten.
Er sieht ein, dass ich Wichtigeres zu tun habe und zieht sich zurück. Ich merke, dass ihm etwas auf dem Herzen liegt, aber ich habe keine Lust, mir seine Geschichten anzuhören. Er verschließt sich immer mehr. Das passt mir gut. Dann fängt er an, woanders zu übernachten. Ihm werden keine Fragen gestellt. Allmählich sieht er kränklich aus. Bei einem Autounfall, den er baut, erfahren wir, dass er heroinabhängig geworden ist. Wir fangen an, ihn dafür zu hassen, denn unserer Meinung nach, ist er ein Schandfleck der Familie. Vater ist bereit eine Unmenge Geld zu zahlen, damit er gesund wird, aber es haut nich hin. Dann verschwindet er aus unserem Leben, und alles ist scheinbar in Ordnung. Nur ab und zu, wenn er was braucht, kreuzt er wieder auf.
Jetzt ist er endgültig fort. Mir wird schwindlig, und ich trete nach hinten.
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