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NACHHALTIGKEIT AUF SOWJETISCH
Von Valentina Myagkostupova.
Die Dinge waren in sowjetischer Zeit personifiziert und vermenschlicht. Der Hintergrund: Der Mensch selbst war eigentlich kein Subjekt, sondern selbst ein Objekt, ein Ding im sowjetischen System, ein Teil des gigantischen Machtmechanismus.
Als Alternative zu dieser Ordnung entsteht sozusagen eine „kleine Aufklärung“, ein Versuch, das Leben der Bevölkerung in der sowjetischen Gesellschaft zu „reparieren“. In den Massenmedien findet man damals zahllose kleine Ratschläge zur Reparatur, Weiterverwendung und Zweckentfremdung defekter Dinge – eine Vorstellung, die uns heute wieder aktuell anmutet und die wir mit Worten wie „Nachhaltigkeit“ verbinden.
Das Wissen, das die Leser der zahlreichen sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften einander mitteilen, findet damals weite Verbreitung. In den sechziger Jahren kann man in vielen Zeitschriften eine extra Spalte oder Rubrik finden, in der die Leser ihre Entdeckungen darstellen und aktiv Ratschläge geben – bestimmte Lösungen anbieten, um einen Defekt des Gesamtsystems Sowjetunion mehr oder weniger zu „korrigieren“. Das bedeutet freilich nicht, dass die sowjetischen Bürger die Machtregierung, die defekte Waren produziert und Warenmangel entstehen lässt, ändern können; sie müssen von existierenden Lebensbedingungen ausgehen, davon, was ihnen vorgegeben wird, um weiterzuleben.
So wird beispielweise eine Spalte der wissenschaftlichen Zeitschrift Wissenschaft und Leben jahrelang den Lesern überlassen, wo sie mit großem Enthusiasmus entsprechende Ideen vorschlagen. Das klingt etwa so: „Wenn Sie den richtigen Bohrerdurchmesser im Handel nicht finden können, fertigen Sie ihn selbst aus Fahrradspeichen oder Nadel …“ (Wissenschaft und Leben, № 11/1966.) Dabei ist es interessant, auf jedes Wort zu achten, weil jedes einen bestimmten Sinn trägt.
1. Ein defektes Ding ist „nur eine Illusion.“
„Werfen Sie Ihr Klebeband oder Pflaster nicht voreilig weg, wenn sie ihre ursprüngliche Elastizität und Klebrigkeit verloren haben. Messen Sie die gewünschte Größe des Klebebands und halten Sie dann das Stück kurz vor eine eingeschalte Glühbirne. Es wird erwärmt und erhält die verlorenen Eigenschaften zurück“ (Wissenschaft und Leben, № 12/1967.). Wissenschaft und Leben führt zahllose Beispiele dafür an, wie man die „Illusion“ des Kaputten durch Aufklärung gnadenlos entlarven kann. Etwa so: Eine vermeintlich leere Batterie kann noch ein paar Stunden funktionieren, wenn man mit dem Hammer auf sie schlägt oder sie in die Wärme legt.
2. Die Freundschaft zum Ding
„Die Dinge sind unsere Genossen“ – in dieser zeitgenössischen Forderung spiegelt sich das kommunistische Ideal der Gleichheit gegenüber allen vor allen, inklusive Frauen, Kinder und Dinge.
1925 reist der bekannte sowjetische Künstler Alexander Rodtschenko (1891-1956) zum ersten und einzigen Mal ins Ausland. Paris ist für ihn, einen einfachen Mann, das Paradies und zugleich die Hölle. Rodtschenko soll an der Weltausstellung teilnehmen. In der Zwischenzeit spaziert er durch die Pariser Straßen und entdeckt eine ihm neue, unbekannte Welt, nämlich eine riesige Auswahl zahlreicher Waren. Darüber schreibt er seiner Frau monatelang Briefe, in denen wir heute seine Eindrücke und Überlegungen nachvollziehen können.
Attraktive und auf den ersten Blick preiswerte westliche Waren erwecken bei Rodtschenko zugleich Begehren und Abneigung, fast Angst. Manchmal verliert er offenbar das Gleichgewicht und ist dann verärgert über sich selbst, seine eigenen Gefühle und Wünsche. So schreibt er pathetisch in einem Brief: „Das Licht aus dem Osten steht in einem neuen Zusammenhang mit dem Menschen, der Frau und den Dingen. Unsere Dinge in unseren Händen sollen auch gleiche Rechte haben, auch Genossen sein, und nicht diese schwarzen und düsteren Sklaven, wie hier. Die Kunst des Ostens soll verstaatlicht und auf Rationen ausgegeben werden. Die Dinge sollen begriffen und Freunde und Genossen des Menschen werden; und der Mensch wird dann mit den Dingen lachen, sprechen und sich freuen können …“[1]
Sowjetische Dinge, fährt Rodtschenko fort, stehen in einem bewussten Gegensatz zur westlichen Warenästhetik, wie er sie in Paris vorfindet. Sie gehen direkt auf den Nutzzweck aus: Die warme Hose wärmt, die Nudeln sind nahrhaft, die Waffen schießen. Nicht modisch, sondern zweckmäßig eingepackt, offenbart die sowjetische Ware das Wesen des Produkts, ohne jemandem Sand in die Augen zu streuen. Deswegen hat ein Produkt, das nicht aufwendig verpackt ist, mehr Wahrheit – so wie der Arbeiter ehrlich und treu ist, sind es die Waren, die er produziert.
3. Die Treue zu den Dingen
Die Treue zu den Dingen ist in der Sowjetunion grenzenlos. Bruch, Abnutzung, Abrieb, Patina sind keineswegs ein Grund, etwas wegzuwerfen – nur ein Idiot kann so etwas tun. Wissenschaft und Leben rät eindringlich davon ab, auf einen guten, treuen Gegenstand zu verzichten: „Ersetzen sie die Gummigriffe des Fahrrads nicht voreilig durch neue, nur weil die Kerbe glatt geworden ist … Die neue wunderbare Kerbe machen Sie selbst“ (Wissenschaft und Leben, №6/1966).
Darüber hinaus ermöglicht der Anlass des Reparierens es, den Einfluss des Besitzers auf das Sein des Dings zu stärken. Durch und mit der Reparatur erforscht er die Möglichkeiten und Eigenschaften seines Dings, stellt zu ihm eine Beziehung her. Das bedeutet zum Beispiel, dass „der beschädigte Staubsaugerschlauch nicht sofort durch einen Neuen ersetzt werden muss. Man kann ihn leicht selbst reparieren, wenn man ein Stück der gewünschten Größe von einem alten Fahrradreifen auf die beschädigte Stelle des Staubsaugerschlauchs zieht“ (Wissenschaft und Leben, № 10/1967).
4. Das zweite Leben der Dinge
Unter der Überschrift „Das zweite Leben der Dinge“ propagiert Wissenschaft und Leben zahlreiche Ratschläge zu allen Lebensfällen. Dabei werden die Unsterblichkeit der Dinge und die Sinnlosigkeit, sie wegzuwerfen, betont. Der Besitzer der kaputten Dinge kann leicht davon überzeugt werden, wie er mit wenig Mühe nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Mitmenschen Freude bereiten kann. Eine Strategie dabei ist das „zweite Leben der Dinge“, ihre bewusste Umwidmung zu alternativen Zwecken: „Die Schreibfeder kann man wunderbar bei der Kernentfernung aus Kirschen benutzen, die Wäscheklammer hilft, eine Rose abzuschneiden und zugleich ein Nägelchen zu schlagen …“
Dinge, die fähig sind, mehr Funktionen zu realisieren als andere, sind besonders wertvoll. Polyfunktionalität ist beliebt und geschätzt (dieser Gedanke ist immer noch sehr aktuell!). So entdeckt beispielsweise ein Leser aus der Stadt Tscherkassy „neue Berufe für Ventilatoren “ und schlägt „einfache Geräte“ vor, die in einem gewöhnlichen Ventilator die Fähigkeiten von Mixer, Elektrobohrmaschine und Schleifscheibe unbeschadet seiner ursprünglichen Funktion entwickeln (Wissenschaft und Leben, № 11/1966). Die Arbeit am Ding öffnet viele nützliche Eigenschaften. Das Ding an sich ist positiv und trägt in sich einen breiten Reichtum an Möglichkeiten, die nur auf ihre Entdeckung warten.
5. Die Zähmung der Dinge
Nach den Ratschlägen aus Wissenschaft und Leben sollen die Dinge nicht nur „ästhetisch“ sein, sondern auch „nützlich.“ Auf den ersten Blick sind die Dinge nämlich Halbfabrikate. Sie sind zwar abgeschlossene Gegenstände, aber keinesfalls immer vollkommen. Zuweilen benötigen sie eine kleine Korrektur, um in optimale und effektive Wechselwirkung mit dem Menschen zu treten.
Ein neues Ding trägt noch keine Spuren seines Besitzers. Es ist dem Menschen noch kein Genosse. In diesem Zustand quält das neue Ding mit seinen Defekten den Menschen. Ein korrekturbedürftiges Ding ist so wie die wilde Natur, die man noch rational erschließen muss. Es ist keineswegs einfach, ein Ding zu beherrschen. Der Beherrscher zeigt dadurch seinen Erfolg, die Kraft seines Talents. Dazu gibt es Ratschläge, wie neue Dinge mit ihren Geburtsfehlern und Defekten „gebändigt“ werden können: „Wenn Sie den neuen Besen nicht für ein paar Stunden in heißes Wasser lassen, wird er ihnen nicht lang dienen.“ Oder: „Wenn Sie im Korkverschluss der Thermosflasche keinen tiefen Einschnitt machen und den Bindfaden nicht einfügen, wird es schlecht halten.“
Wissenschaft und Leben gibt auch spezielle Ratschläge für bestimmte Leserkreise, so wie etwa die „Erste Hilfe für das Magnettongerät“: „Der Besitzer des Magnettongeräts hat oft etwas mit Gummi zu tun. Für ihn ist es nützlich zu wissen, dass Gummi leichter schneidbar ist, wenn das scharfe Messer ein wenig eingeseift ist“ (Wissenschaft und Leben, № 10/1969).
Tipps und Tricks: Die Zeitschrift „Wissenschaft und Leben“
№1, 1987
„Pelzfausthandschuhe sind für das Kind bei strenger Kälte notwendig. Mittlerweile gehen sie oft verloren, und es ist nicht immer möglich, sie zu kaufen. Wunderbare Fausthandschuhe können aus der alten Mütze mit Ohrenklappen gut gelingen, schreibt M. Mikhailov (Moskau). Von der Mütze schneidet man die Ohren ab, dann schneidet man ein Loch in sie und näht die Finger an – und tragen Sie sie zur Gesundheit, keine Angst vor der Kälte!“
№2, 1971
„Die Köpfe alter Zahnpastatuben (wie ‘Pomorin’ oder ‘Mary’) können gegebenenfalls als Beine für Schatullen, Schränkchen und andere Tischgegenstände verwendet werden. Bohren Sie (oder versuchen es zu tun) in jeden Metallplattenkopf drei Löcher, schmieren Sie in die Gewinde einem beliebigen Kleber ein, schrauben Sie die Kunststoffkappe fest – und das Bein ist fertig. Es bleibt nur, es festzuschrauben.
A. Kustov. Moskau.“
№3, 1983
„Ein kaputter Regenschirm kann noch nützlich sein, schreibt I. Fedotova (Petropawlowsk-Kamtschatski). Aus seinem Stoff kann eine schöne und dauerhafte Einholtasche werden. Der Stoff muss nur vom Regenschirm entfernt, dann abgetrennt und in rechteckige Stoffstücke genäht werden. Der Schnitt der Tasche aus diesem genähten Regenschirmstoff kann beliebig sein.“
№7, 1990
„Um einen geringen Abrieb auf Pelzmütze, Pelzkragen oder Pelzmantel zu restaurieren, muss man sich nicht unbedingt an ein Atelier wenden. Zunächst kämmen Sie den Pelz mit einem Kamm und sammeln Sie danach den gebliebenen Rest auf dem Kamm. Dann platzieren Sie sorgfältig die Wollfasern auf der abgetriebenen Stelle, die Sie zuvor mit dem Klebstoff ‘Moment’ eingeschmiert haben. Schon fertig!“
№8, 1990
„Wenn man Ihren Regenschirm nicht mehr reparieren und wiederherstellen kann, werfen sie ihn nicht voreilig weg. Aus den Speichen kann man eine große Nadel, Ahle oder einen Schraubenzieher für kleine Schrauben machen. Aus den Stahlbändern kann man ein Werkzeug für die Holzschnitzerei anfertigen, nämlich einen Stichel. Die Spannfeder passt zum Küchenmetallfeuerzeug. Der Griff des Regenschirms kann als Griff eines Schraubenziehers oder eines anderen Werkzeugs dienen.“
№8, 1987
„Eine über einer Flamme verbogene alte Zahnbürste verwandelt sich in ein praktisches Werkzeug zum Streichen oder Lackieren kleiner Fläche. Es ist eine bequeme Bürste zum Streichen von Rohren, die nah an den Wänden sind. Der Griff ist in diesem Fall allerdings anders zu verbiegen.“
Ein Fazit zu diesen einerseits anachronistisch, andererseits höchst zeitgemäß wirkenden Glossen (die es natürlich nur in unseren Augen sind) fällt schwer. Die Wertschätzung, mit der die Sowjetbürger dem Kosmos ihrer Dingwelt begegnen, ihr Bemühen, selbst kaputten und vernutzten Dingen noch Würde und Wert abzugewinnen, wirkt auf uns heute rührend und scheint wie eine Kritik an unserer Wegwerfgesellschaft. Dass dieses Bemühen Resultat eines wirtschaftlichen Mangels ist, kann leicht zugegeben werden. Dennoch spiegelt sich in ihm ein Ernst des Lebens, eine Entschlossenheit zur Demut und zum „richtigen Leben“, die puritanisch anmutet und die in uns eine eigenartige Sehnsucht weckt – vielleicht die nach dem richtigen Leben im falschen?
[1] Alexander Rodtschenko, Die Experimente für die Zukunft. Tagebücher. Schriften. Briefe. – Moskau: Grant, 1996. S. 152./ Александр Родченко. Опыты для будущего. Дневники. Статьи. Письма. Записки. М.: Грант, 1996. C. 152. Zitat aus dem Russischen übersetzt von V. Myagkostupova
Bildquelle: (c) DA