Novelle

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DIE WAHRHEIT TANZT NACKT

Von Hartmut Holger Kraske.

Wieso läuft Eve die ganze Zeit nackt durch die Wohnung? Der String-Tanga zählt nicht. Der wirkt an Eve wie ein Komma in einem unvollständigen Satz. Eve. Nackt. Im Beisein unserer Freunde. Alle sind sie overdressed. Als sich Eve zu Peter herunterbeugt, ihn um Feuer bittet, die filterlose Zigarette zwischen ihren schlanken Fingern, da fühle ich mich an die Fotografien von Helmut Newton erinnert. Sehr angezogene Männer und sehr ungezogene unangezogene Frauen. Dass Eves Brüste vor Peters Sex-Radar baumeln ärgert mich weniger, als der Blickkontakt zwischen den Beiden. Eve steht eine halbe Ewigkeit lang in dieser leicht gebeugten Haltung da. Peters Feuerzeug streikt. Genug Zeit, um Eve in die Augen zu sehen. Ein langer tiefer Blick. Ein tiefer langer Zug an der Zigarette, als die Flamme endlich Eves dunklen Mund erhellt. Falls das überhaupt möglich ist. Diese Lippen! Dieser tief dunkelrote Lippenstift mit dem Eve einst das Wort “VERSAGER” an unseren Badezimmerspiegel schrieb. Ich fühle mich nicht angesprochen. Wie zum Hohn habe ich den Lippenstift vom Spiegel geleckt, während mein Johnny und meine rechte Hand mit einer Solonummer beschäftigt waren. An wen ich dabei dachte? An Eve. An wen sonst. Wenn man Eve kennt, ist man für andere Frauen versaut, verbrannt und bald schon ausgebrannt.

Eve steht noch eine Weile da, raucht ihre Zigarette, sieht auf Peter herab der auf unserem unbequemsten Stuhl sitzt. Peter wirkt wie ein britischer Tourist auf einem Voodoo-Thron sitzend. Respektlos ungeniert und auf naive Art amüsiert sieht er zu Eve auf. Ich überlege mir, welche Stellungen auf diesem Stuhl möglich wären, würde Eve jetzt gleich zur Sache kommen. Wahrscheinlich würde sie wie auf einem Pferd sitzend ihre Hüften gegen Peters Geschlecht rammen, Eves Hände fest die Rückenlehne des Stuhls umfassend. Für Peter gäbe es kein Entkommen. Nicht vor Eves drittem oder viertem Orgasmus. Rücksichtslos würde sie ihn mit Viagra füttern und feuchte Durchhalteparolen keuchen, bis es vollbracht ist. Bei Eve braucht man die blauen Pillen nicht. Eve ist die Droge. Nebenwirkung: Dauerständer.

Eve wirkt gar nicht vulgär oder cartoonmäßig sexy oder wie eine abgenutzte Männerfantasie. Sie ist nur einfach wie sie ist… zum Bersten selbstbewusst. Eve trägt ihren Körper wie ein Kleidungsstück, wie einen Lieblingsmantel oder wie ein Paar Stilettos. Sie muss auch gar nicht nackt sein. Man könnte Eve in einen Leinensack stecken. Sie würde mit ihrer lasziven Art einen Kahn voller betäubter Matrosen zum Sinken bringen. Das Schiff kriegt einfach Schlagseite, weil alle an Eve drankleben, wie die Fliegen an…

Peter schlägt jetzt die Beine übereinander. Wahrscheinlich will er die Erektion verbergen, die sich zwischen seinen Sprinterschenkeln aufbäumt und seine zu enge Hose verbeult. Warum öffnet er nicht einfach seinen Hosenknopf und zippt seinen kleinen einzigen Freund aus dem engen beigefarbenen Gefängnis?

“Hol` ihn doch raus!” sage ich, wie zu mir selbst. Aber ich sage es noch laut genug um Blicke auf mich zu ziehen. Ich stehe auf und hole mir einen weiteren Drink. Auf dem Rückweg remple ich Eve leicht an. Uups! Etwas von dem White Russian schwappt aus Eves Glas, über ihren Handrücken und auf Peters alberne zu enge Hose. Wie eine Klapperschlange schnellt Eves Hand hervor, schnappt nach meinem Kavalierstaschentuch, wobei die Asche ihrer Zigarette auf meine Wildlederboots rieselt. Mit meinem Taschentuch schrubbt Eve jetzt an Peters Hose herum, tätschelt dabei beiläufig das kleine Köpfchen seines anschwellenden Johnny. Ich frage mich, oder der Fleck in der Hose nur vom White Russian stammt oder auch schon von etwas anderem. Eve leckt den White Russian von ihrem Handrücken und straft mich mit diesem Blick, den ich mit einem amüsierten Blick erwidere. Ich lasse mich wieder in meinen bequemen Sessel fallen, nippe von meinem Cuba Libre und warte einfach ab.

War ja klar. Das hält keiner lange aus! Peter packt Eves Nacken, zieht ihren Kopf zu sich herab und steckt ihr seine Zunge in ihren Hals. Eve erwidert diesen Kuss indem sie das Kommando übernimmt. Sie markiert ihn mit ihrem Lippenstift, ertränkt ihn in einem langen Kuss. Peter erstickt fast an seiner Gier.

“Tut einfach so, als wäre ich nicht hier!” sage ich und nippe von meinem Drink. Als ob ich das sagen müsste. Die beiden ignorieren mich sowieso. Ich bin ohnehin nur ein Gespenst. Zumindest fühle ich mich so.

Peter zieht Eves Slip über die drallen Oberschenkel und der teure Witz von einem Stück Seide legt sich eng um das Fleisch, so als wären Eves Beine mit dem Slip gefesselt. Peters Nase kommt gefährlich geruchsnah an Eves blondgelockten Bären heran, den sie ihm jetzt gleich aufbinden wird. Will er sie lecken oder Eves Bärchen mit seiner Nasenspitze penetrieren? Wieso sieht alles an Peter unfreiwillig komisch aus?

Mir kommt es fast, als ich weiter auf die Szene starre. Eve kniet sich breitbeinig auf die Stuhllehne des Voodoo-Throns, presst ihre Scham gegen Peters Gesicht und krallt sich dabei an der Rückenlehne des Stuhls fest. Peters behaarte Finger graben sich in Eves festen Hintern, während seine Zunge in Eves geheimer Höhle Mambo tanzt. Ich grinse, weil ich weiß, wie das hier ausgehen wird. Ich starre auf Peters protzigen Siegelring. Selbst Peters Wappen sieht albern aus; Wie ein krummer Säbel zwischen zwei Megamöpse gepresst.

Unsere Gäste nehmen die Nummer gelassen zur Kenntnis, drehen sich wieder weg und plaudern weiter über Aktienfonds, Steuersparmodelle und die Vorteile eines Bentley gegenüber eines Porsche. Der Bentley ist bequem und geräumig. Der Porsche eng aber geil. Der Bentley brummt gelassen und kitzelt einem die Prostata auf langen Fahrten. Der Porsche drückt einem beim Beschleunigen das eigene Hirn in den Schoß. Dass Eve während unserer Partys einen unserer Gäste liebt hat man nonchalant zu ignorieren. Es sei denn man wird selbst geliebt.

Eve legt eine Pause ein und tänzelt gutgelaunt zur Hausbar zurück. Die Zigarette in der einen Hand, das leere Glas in ihrer anderen. Eves kesser Hüftschwung rempelt sich durch die Menge der stilvoll gekleideten Gäste. An der Hausbar angekommen parkt sie eine Arschbacke lässig auf einem Barhocker, wie auf dem Sprung. Doch Eve verweilt noch ein wenig an der Bar. Sie sagt irgendetwas zu dem jungen Barkeeper und lächelt kess. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt. Bryan Ferrys Stimme quillt watteweich aber einen Tick zu laut aus den Luxus-Lautsprechern. SLAVE TO LOVE. Habe den Song nie gemocht. Gibt nicht annähernd das Gefühl wirklicher Besessenheit wieder. Eve packt den Barkeeper an der Krawatte, zieht seinen Kopf zu sich heran und flüstert ihm irgendetwas ins Ohr. Eve lacht zu laut und zu aufreizend. Der Baarkeper grinst nur und senkt verlegen seinen Kopf. Dann sieht er zu mir herüber. “Was denn, Bastard?” denke ich mir. Aber was kann schon dieser junge, lecker Kerl dafür, dass Eve ein Miststück ist?

Eve tänzelt zurück zu ihrem Opfer, tänzelt wie die Spinne über das Spinnennetz auf die Fliege zu. Sie wirft mir im Vorbeigehen einen Luftkuss zu, pointiert von einem Zwinkern. Jetzt schält sie Peter aus dem Sacko und aus dem Seidenhemd. Diese Witzfigur verbringt offenbar seine komplette Freizeit im Fitness-Studio. Okay. Das Training zeigt Wirkung. Aber Peter wirkt mit seinem Sixpack und seinen Muckies trotzdem wie ein Zeichentrick-Popey. Iss deinen Spinat, Seemann! Und dann auf zur nächsten Runde!

Eve tanzt Limbo auf Peters Schoß. Gleich bricht er in der Mitte durch. Peter sabbert wie ein Baby zwischen Eves Brüste und keucht nach Luft. Eves harte Nippel stechen ihm fast ein Auge aus. Eve dreht sich herum und hängt an die Nummer ein Da Capo dran. Jetzt spielt sie auf Peter “Hoppe Reiter” während sie ihren Blickkontakt zu mir nicht abreißen lässt. So nahe wie jetzt war ich Eve schon lange nicht mehr. Ich bin ihr nahe, wirklich nahe, während sie den Anwalt der Gegenseite liebt. Meine Kleine! Ich bin so stolz auf Eve.

Während seines Orgasmus krallt Peter seine haarigen Griffel in Eves üppige gerötete Brüste. Ich möchte ihm die Finger brechen. Doch das gehört nicht zum Plan. Also lasse ich es sein. Peter hat fertig, zuckt spastisch und wirkt wie so oft unfreiwillig komisch. Eve stößt sich von ihm ab, schnappt sich sein Hemd und wirft es sich über. Sie trägt sein Hemd wie eine Trophäe, wie einen Skalp. Sie wird ihn noch häuten und vierteilen. Im übertragenen Sinne. Doch noch ist es nicht so weit. Wir sind noch lange nicht mit ihm fertig.

Eve tänzelt zu mir rüber, noch immer das Glas in einer und eine Zigarette (die nächste) in ihrer anderen Hand. Unglaublich. Selbst während unserer akrobatischen Stunts im Bett kriegt Eve es fertig zu rauchen und zu trinken, mit einer Coolness, die man sonst nur von Dean Martin kennt. Auch die Bude hier sieht aus, wie von Dean Martin gekapert; Ein 50ies Ranchstyle Bungalow, gepimpt mit den technischen Spielereien des Hier und Jetzt.

Eve küsst mich lang, hart und feucht und ich reiche ihr den großen Wahrheitsvernichter. Sie schnallt ihn sich um und ich starre nur auf ihren festen Hintern unter dem breiten Gürtel. Zusammen schlendern wir zu Peter herüber. Seine albernen Hosen in den Kniekehlen baumelnd, ergreift er die Flucht, als er Eve mit einem Wahrheitsvernichter auf sich zukommen sieht. Peter versucht, sich auf der Flucht die Hosen hoch zu ziehen, was bei ihm so wirkt wie Sackhüpfen. Doch er hat keine Chance zu entkommen. Beim Billardtisch holen wir ihn ein und er kann die Hose gleich unten behalten. Ich packe Peter am Nacken und presse sein Gesicht auf den Billardtisch. Mit meiner freien Hand schubse ich eine Billardkugel vor seinem Gesicht hin und her. Peters Blick folgt der Kugel, als erhoffe er sich davon, hypnotisiert zu werden. Ich lächle milde. Mein Blick driftet ab zu Eve. Sie ist diesmal gnädig und reibt den Wahrheitsvernichter mit irgendeinem Fettzeug ein. Als ich Eves schlanke Finger an dem Wahrheitsvernichter sehe, werde ich geil und ungeduldig. Eve küsst mich, als sie das Spielzeug in einen wirklich dunklen Tunnel schiebt. Peter gibt ein Geräusch von sich. Es klingt tussihaft, wie von einer Jungfrau. Das lässt unseren Popey nicht gerade männlich wirken. Ich kann mit meinem Daumen seinen Puls spüren, während ich ihn weiter am Nacken gepackt halte und seinen Kopf auf den Billardtisch presse. Eve stößt rhythmisch zu, wie ein richtiger Kerl und wir küssen uns. Wir haben uns schon lange nicht mehr so leidenschaftlich und so aufrichtig geküsst. Kann man aufrichtig küssen? Muss man fühlen! Denn Unterschied kann man schmecken, wenn man all die unaufrichtigen Küsse kennt. Den angewiderten “Guten Morgen Schmatz” und das lieblose “tut mir leid” Küsschen. Das hier ist echt! Das tun wir jetzt aus reinem Verlangen und im gemeinsamen Einvernehmen. Peter beschwert sich gar nicht über den Wahrheitsvernichter in ihm drin. Also nehmen wir an, dass es ihm gefällt. Ich bewundere einen Moment lang seine Sprinterbeine und bin ein wenig neidisch. Eve stößt etwas fester zu und zerkratzt mit ihren vampirösen Krallen Peters muskulösen Rücken. Wenige Partygäste ergreifen jetzt dezent die Flucht. Andere drehen sich verschämt weg und versuchen sich weiterhin in Konversation. Zerbröselte Sätze und gestammelte Worte sind undeutlich zu hören, während über die Vorzüge von Lederausstattung in Luxusfahrzeugen und über Steueroasen gefaselt wird. THE CHOSEN ONE aus dem Bryan Ferry Album BOYS & GIRLS bumpert aus den Lautsprechern. Eve bumpert Peter im Takt des Songs, den Peter so schnell nicht mehr mit irgend etwas anderem wird assoziieren können.

Als Eve den Wahrheitsvernichter aus Peter herausziehen will, reißt das Ding vom breiten Ledergürtel ab. Wir drei gucken etwas bedeppert drein. Eve ist die Erste von uns, die laut loslacht. Ich stimme ins Lachen ein. Peter lacht nicht. Er wirkt peinlich berührt, aber er scheint weder schockiert noch verärgert zu sein. Er lässt das Ding einfach in sich drin und zieht seine Hosen hoch. Vielleicht steht er unter Schock und diese Erfahrung muss sich erst noch setzen in seinem kleinen Juristengehirn. Ich frage mich, wie diese Witzfigur seinen Abschluss geschafft hat. Zu lange halte ich mich mit diesem Gedanken nicht auf. Ich bin dafür zu abgelenkt und zu fasziniert von Eve. Ihre Brüste gerade so von Peters Seidenhemd bedeckt, der breite Ledergürtel über ihrem blondgelockten Bären. Ein Bild für Götter. Dieses Bild, heute Abend nur für einen Gott. Mich.

Wer ich bin? Nicht so wichtig! Ich bin nur der Gott der verbotenen Bilder. Ich bin der Regisseur, der die Wirklichkeit ins rechte Licht rückt, auf eine Art, welche die Wirklichkeit unwirklich erscheinen lässt. Die Wirklichkeit… was ist das schon? Wie ist das definiert? Die Wahrheit wird überschätzt. Die Wirklichkeit; Informationen, die in unseren beschränkten Hirnen zur so genannten Wahrheit zusammengepuzzelt wird. Peter ist Staranwalt. Er vertritt die Verkorksten und Kaputten. Also all jene, die ihm Publicity bringen. Dank Rechtsverdrehern wie Peter kriegt heute jeder Serienmörder seine Bühne im Gerichtssaal. Jeder Kannibale wird zum traurigen Opfer seiner kaputten Psyche stilisiert. Peter ist des Teufels Advokat. Dabei ist Peter dem Teufel nie begegnet. Das gehört geändert.

Peter nimmt es mit der Wahrheit selbst nicht so genau. Da werden Richter bestochen und Zeugen gekauft. Es werden Beweise gefälscht oder Beweise verschwinden. Die Wahrheit wird verdreht. Die Wahrheit. Ach, die liebe kleine Wahrheit. Peter verdreht die Wahrheit wie es ihm passt, dreht die Wahrheit herum und liebt sie von hinten. Die arme Wahrheit. Diese uralte Jungfrau. Peter hat sie sich gekrallt und misshandelt und entjungfert. Peter schleppt Koffer mit sich herum. Darin befinden sich nicht irgendwelche Unterlagen, sondern größere Summen Geld. Aber Bestechung geht auch anders. Peter lässt Edelnutten aufmarschieren, die edlen teuren Körper nur in Götterroben gehüllt. Machen wir es doch gleich hier – im Richterzimmer. Recht und Gesetz. Die Wahrheit. Ach, f*** die doch, die Wahrheit! Die Wahrheit tanzt nackt. Lasst uns tanzen!

Bildquelle: (c) DA
Erstveroeffentlichung: "Experimenta", Ausgabe August 2017

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