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ISAM-Test

Von Stephanie Stummer.

Gestern brachten sie es im Fernsehen. Direkt nach den Nachrichten gab es eine Sondersendung, in der der neue Minister für Gesellschaft und Soziale Anpassung mit dröhnender Stimme und einem Ich-gestikuliere-also-bin-ich-Auftreten von den neuesten Erkenntnissen berichtete. Es war nicht meine Großmutter, die wie sonst in solchen Situationen mit vor Verzweiflung trübem Blick jammernd angesichts dieser Welt, die da vor die Hunde geht, in der Ecke saß, nein, es war mein kleiner Bruder, der sonst lediglich wegen pubertären Spinnereien zu trübem Blick neigt, es war mein kleiner Bruder, der in der Ecke saß und jammerte: „Die Welt geht vor die Hunde!“

„Wenn selbst du es erkennst, muss es mittlerweile wohl schon arg schlimm sein“, sagte ich erstaunt und drehte den Fernseher lauter. Mein kleiner Bruder klammerte sich an dem Button fest, den er sich seit ein paar Tagen jeden Morgen auf die Brust pinnt und der frei nach Thom Yorke der ganzen vor die Hunde gehenden Welt mitteilt: „I’m a creep, I’m a weirdo“. Meiner Großmutter hatte er übrigens auch schon so einen Button angedreht, sie versteht nicht viel Englisch, aber sie liebt es grundsätzlich, anders zu sein.

Der Minister für Gesellschaft und Soziale Anpassung machte uns indessen mit seiner Rede klar, dass wir nicht lieben sollten, anders zu sein, denn er liebte uns nicht, wenn wir anders waren. Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, reckte die Faust in die Höhe, kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf, spuckte beinahe, als er zum Höhepunkt seiner Rede kam und vielleicht sprühten tatsächlich einmal Funken aus seinen Augen.

„Anpassung!“, rief er und breitete die Arme aus. „Anpassung ist die Lösung all unserer Probleme! Wir müssen alles Auffällige, alles Unangepasste, alles, was gegen die Norm geht, gegen unsere normale, heile Welt, all das müssen wir ausmerzen, tilgen, vernichten, zerstören!“

Als er das nächste Mal „Anpassung“ brüllt, brüllt mein Bruder auf und ich weiß, dass er an die Menschen denkt, die nicht bei uns, nicht in diesem Land, bleiben durften, weil sie als „nicht anpassungsfähig“ oder auch „dem Anpassungstraining nicht würdig“ eingestuft worden waren. Weg, abgeschoben, nicht der Rede wert. Deshalb trugen mein Bruder und meine Großmutter Buttons und wandelten mit trübem Blick durch die Gegend und deshalb ging die Welt vor die Hunde.

„Aber“, fuhr der Minister für Gesellschaft und Soziale Anpassung fort und es war jetzt ein fieses Funkeln in seinen Augen zu erkennen, „wir haben nun eine neue Methode entdeckt, wie wir diejenigen unter uns, die Gefahr laufen, den Pfad der anständigen, angepassten Gesellschaft zu verlassen, schneller erkennen können! Wie wir diejenigen unter uns, die anders gestrickt und seltsam gepolt und nicht wie wir sind, aussortieren können!“

Er stellte einen kleinen Karton, der aus dem Nichts zu kommen schien, auf das Rednerpult vor ihm, fuhr hinein und zog triumphierend eine kleine, weiße Labormaus an ihrem Schwanz heraus. Er ließ sie in der Luft hin- und herbaumeln, das Tierchen zappelte panisch und quiekte schrill.

„Sie fragen sich, wie dieses kleine, weiße Mäuschen die Antwort auf all unsere Probleme sein soll? Nun, ich möchte sie hier nicht mit langweiligen Forschungsdetails quälen – Tatsache ist, dass unser Forschungsteam herausgefunden hat, dass die Menschen, die unserer Gesellschaft nicht würdig sind, Träger einer bestimmten Substanz sind. Ihr Blut enthält etwas, das unser Blut nicht enthält. Diese Mäuse scheinen nun auf genau diese Blutbestandteile allergisch zu reagieren, im schlimmsten Fall ist sie für sie sogar tödlich!“

Er feuerte einen effekthaschenden Blick aus dem Bildschirm heraus, die Maus weiterhin in der Luft herumwirbelnd. Vermutlich stellte er sich vor, wie gerade ein entsetztes Raunen durch die Zuschauermenge ging: „Oh ja, so gefährlich sind diese Menschen, alleine ihr Blut ist imstande, unschuldige Tierchen zu töten!“

Mein Bruder, dessen Blick mittlerweile nicht mehr trüb, sondern starr und klar und wild vor Entsetzen geworden war, murmelte den Bildschirm an: „Wenn du so weiter herumfuchtelst, wirst du wohl auch das unschuldige Tierchen töten!“

Die Ich-breite-die-Arme-aus-Pose war anscheinend seine Lieblingspose, denn nun breitete er wieder die Arme aus, in der einen Hand noch immer die Maus baumelnd: „Aber, mein liebes Volk, wir müssen unser Wohlergehen vor das der Mäuse stellen und müssen dankbar sein, diese Möglichkeit, die schlechte Saat unter uns ausfindig zu machen, gefunden zu haben! Dies bedeutet wahrhaftig einen Durchbruch für uns!“

Er wirbelte herum, deutete zuerst an, sich einem Publikum auf seiner rechten Seite näherzuneigen: „Ihr achtjähriger Sohn singt gemeinsam mit seinem Spielkameraden Songs aus dem Abba-Musical und schmachtet ihn dabei an? Ein einmaliger Ausrutscher oder der Beginn eines traurigen, traurigen Daseins? Lassen Sie eine Maus mit seinem Serum beimpfen und finden Sie es heraus!“

Er neigte sich nun Richtung links, der anderen Hälfte seines imaginären Publikums entgegen: „Ihr Onkel stellt jedem, den er trifft, die Frage, was er heute zu Mittag gegessen hat? Eine seltsame Laune oder das Symptom seiner Andersartigkeit? Lassen Sie eine Maus mit seinem Serum beimpfen und finden Sie es heraus!“

Richtig in Fahrt gekommen gab er den Starverkäufer, als würde er hier einen Staubsauger verkaufen, sprach er davon, wie toll es sein würde, dass wir alle nicht mehr im Dunkeln tappen würden, was die Angepasstheit unserer Mitmenschen anging, wir würden in Zukunft immer wissen, was Sache war und konnten bei Bedarf schnell handeln – auf das Handeln ging er nicht näher ein, aber das unentwegte Quieken der weißen Maus in seiner Faust reichte schon aus, um meine Phantasie galoppieren zu lassen.

„Wissen Sie was, liebe Leute“, fuhr er fort, nachdem er sich vor Begeisterung ächzend die schweißnasse Stirn trockengewischt hatte, „lassen Sie es uns doch hier und gleich versuchen! Seien Sie bei der Durchführung des ersten offiziellen Identifizierung-von-sozialen-Außenseitern-Mäuse-Tests, kurz ISAM-Test, dabei!“ Wie auf Kommando wurde ein verdattert aussehender junger Bursche zu ihm ans Pult geschubst; als wüsste sie, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte, begann die Maus noch schriller zu quieken. Der Bursche sah für mich auf den ersten Blick völlig normal aus, durchschnittlich, unauffällig, meinetwegen anpasst.

„Wen haben wir denn da?“ Der Minister warf einen Blick auf eine Karteikarte, die wie der Karton vorhin plötzlich auf seinem Pult aufgetaucht war. „Rebellischer Schüler, trotz mehrmaliger Ermahnung noch immer auffälliges Verhalten, äußert oft unerwünschte Ansichten und Meinungen?“ Er zückte eine Spritze und machte sich daran, dem Burschen Blut abzunehmen. Der traute sich offensichtlich überhaupt nichts zu sagen, sein Gesicht war ein einziger Ausdruck schierer Panik – natürlich, freiwillig war er wohl kaum hier zur Vorführung angetreten.

Der Maus, die zur Blutabnahme kurz in die Kiste wandern musste, wurde anschließend das Blut des Burschen, des angeblich „Unangepassten“, injiziert – und nun hieß es warten. Mein Bruder und ich saßen mit offenen Mündern da, während der Minister weiterpalaverte: „Je höher der Anteil an der an diesen speziellen Bestandteilen, das heißt, je schlechter der Mensch, desto früher wird man natürlich auch bei der Maus erste Symptome erkennen – ganz klar. Es gibt eine genaue Berechnungsskala für diesen Unangepasstheitswert, er ist abhängig von den Symptomen, wie stark sie sind, wie schnell sie aufgetreten sind und so weiter. Davon abhängig ist das gesamte weitere Prozedere. Stirbt die Maus, ist die Sache natürlich gegessen!“

Er lachte widerlich und laut und haute dem jungen Burschen, der ganz blass im Gesicht war und allem Anschein nach jeden Moment vor Angst in die Ohnmacht fallen würde, vergnügt auf den Rücken.

Die Kamera zoomte näher auf die Maus in dem Karton – und siehe da: Die Maus schien sehr wackelig auf den Beinen zu seinen, desorientierte wankte sie von einer Ecke in die nächste. Mein Bruder umklammerte wieder seinen Button und stieß empört hervor: „So wie der das arme Ding vorher geschüttelt hat, ist das doch kein Wunder! Da ist es eher ein Wunder, dass sie vorhin nicht schon draufgegangen ist! Ich kann das alles nicht mehr mitansehen!“ Er schnauft, reißt mir die Fernbedienung aus der Hand, schaltet das Gerät aus und wirft die Bedienung weit von sich.

Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte, und starrte angesichts dieser vor die Hunde gehenden Welt mit trübem Blick vor mich hin. Dann streckte ich die Hand aus: „Gib mir doch bitte auch so einen Button!“

Gestern Nacht wachte ich kurz nach Mitternacht auf, sah bei meinem gekippten Fenster eine weiße Maus, die im Begriff war, hereinzukrabbeln. Schlagartig breitete sich Panik in meinem Körper aus, ich dachte an den „I’m a creep, I’m a weirdo“-Button frei nach Thom Yorke, den ich mir wegen der vor die Hunde gehenden Welt auch auf den Pyjama gepinnt hatte, und ich dachte an das arme Leben der Maus, an die Maus, die nur ja nicht mit mir in Berührung kommen sollte, weil ihr sonst vielleicht Übles oder sogar der Tod drohte. Also bäumte ich mich ruckartig auf und machte mit einem solchen Knall und Rums und Elan das Fenster zu, dass ich die Maus dabei zerquetschte.

Bildquelle: (c) DA

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