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Ritzer

Von Paul Lindner.

Ob es wohl an den Namen lag, die er heute bei seiner Wanderung durch das Gebirge in einem Baumstamm eingeritzt sah? Eine simple Liebeserklärung, die jemand an einem romantischen Ort verewigen wollte. Aber vielleicht waren es nicht die Namen, sondern die Ritzerei selbst, die ihn wieder an seine Jugendlichen denken ließ. Oder schweiften seine Gedanken schon früher ab; vielleicht heute Morgen beim Waschen, als er seine eigenen Narben am Oberarm betrachtete?

Wie dem auch sei, jedenfalls dachte er an die verdammten Ritzer. Dabei war es seine Absicht gewesen sie alle hinter sich zu lassen; er hier oben, sie irgendwo da unten. Man musste sich davon lösen, alles für eine Weile loslassen, sonst drohte ein Burnout wie die schwatzenden Therapeuten und anderes psychoanalytisches Gesocks meinten. Alles loslassen, das ging am besten in den Bergen. Die Familie, der Job, der Alltag – hier war die Routine entbehrlich. Aber auch auf den Alk verzichten? Da würde er möglicherweise unter Entzugserscheinungen eben seines gewohnten Alltags und all der dazugehörigen Dinge leiden. Nein, das kam nicht in Frage. Wenn schon weg, dann richtig.

Nun war es Abend und er lag im Bett eines einer wunderbaren und schlichten Herberge im Erzgebirge. In den Bergen versuchte er alles langsam angehen zu lassen; gemächliches Wandern, während der Rast die Umgebung genauer wahrnehmen, die herrlichen Aussichten bewundern. Die eigene Mitte finden, wie man es sagte.

Schon immer zog es ihn in die Berge; Robert war der Meinung, dass irgendwas Großes – nenn es Gott – hier spürbar war, alles durchdrang und dann, wenn das vermeintlich Wesentliche unwesentlich wurde, da konnte man aus sich heraus und so vieles aus einer anderen Perspektive sehen. Man konnte von Meditation und Einkehr, ja Erleuchtung sprechen. Da wurde das leere Gefäß wieder neu gefüllt. Und zu Beginn war der Inhalt größer als die Realität, unfassbar, alles einend. Erst später, wieder daheim war und je mehr der Alltag das vergeistigte Innere verzehrte, desto verschwommener, entrückter wurde das Göttliche. Bis lediglich eine Erinnerung, ein Traum dieser mystischen Erfahrung übrig blieb. Aber auch dies reichte meist aus, um der tristen Wirklichkeit zu trotzen.

Es ging für Robert stets darum für etwas Gutes zu kämpfen, solange es ging und dann bei Erschöpfung eine Rückzugsmöglichkeit zu haben, um für eine Weile unangreifbar zu sein und neu aufzutanken. Deshalb die Flucht in die Berge, die einen wieder herrichteten, das Leben erträglicher machten.

Sein Blick streifte die Wände und blieb am Bild jenseits des Fensters hängen; das Zwielicht der Dämmerung teilte eine Welt von der anderen. Seine Gedanken sammelten sich langsam und zähflüssig wie eisiger Wodka.

Er sah sich morgen wieder sachte nach unten gehen, hinab ins Tal, fast schwebend, geräuschlos und dann weiter und schneller, nordwestlich, während der Körper immer träger wurde. Oder waren es nur die Augenlider?

Und da lag er, auf dem Bett im Schlafraum der Erzieher. Das Licht hatte er bereits ausgeknipst. Ist er eingenickt? Draußen trommelte der Regen gegen den Fenstersims. Plötzlich klopfte es an der Tür. Er stand auf, zog sich rasch die Hose an und machte auf.

  • Ja? – fragte er unwirsch.

Die scheinbar verängstige, zierliche Gestalt trat vorsichtig einen Schritt näher und hielt sich dabei mit der Linken ihren rechten Unterarm fest. Verwischtes Blut.

Richard taxierte die blasse 16jährige, warf dann einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand; es war kurz nach eins – gute Zeit für Ritzer.

  • Ich habe mich geschnitten – piepste das Mädchen entschuldigend und dabei dämlich grinsend.
  • So – Robert wies ihr mit dem Kopf rüber ins Dienstzimmer zu gehen.

Nachdem er dort Licht gemacht hat, bat er sie in einem der Korbstühle Platz zu nehmen. Aus dem Regal neben der Tür nahm er den Erste-Hilfe-Koffer. Das trübe Licht der Sparlampe, die mehrere Minuten brauchte, bis sie ausreichend hell brannte, nervte ihn jedes Mal.

Das Mädchen streckte ihren verletzten Arm aus und schaute den Erzieher erwartungsvoll an, während dieser erst einmal die Wunde begutachtete; die drei ungefähr 5 cm langen Schnitte waren exakt parallel zueinander, nicht besonders tief und das Blut begann zu gerinnen. „Mach 3“ oder diese 4-Klingen „Venus“ Lady Shaver waren beim Ritzen hier der Standard.

  • Hast du einen Rasierer benutzt? – fragte Robert rhetorisch.
  • Ja.
  • Ich werde die Wunde desinfizieren und verbinden.

Richard packte den Erste-Hilfe-Koffer aus. Er fragte schon seit langem nicht mehr nach dem „wieso“. Sie wollten meistens Aufmerksamkeit und Zuwendung, die sie in ihrer Kindheit kaum hatten. Dieses Dasein am Rande, fehl am Platz, nicht gebraucht zu sein, mit Handy, jedoch ohne Freunde, mit Piercings und anderem Blech im Gesicht, aber ohne Elternpräsenz. Irgendwann eskalierte die Scheiße: Rebellion gegen die Alten, die nie Zeit hatten, enttäuschte Teeny-Liebschaften, der Hass gegen sich selbst und den eigenen Körper, der verdammt noch mal nicht aussah wie bei einem Top-Modell. Dazu die Flucht in Drogen und Alkohol. Manchmal landeten sie danach in Kinder- und Jugendpsychiatrien oder in Therapie-, bzw. Krisengruppen. Und dann gab es unter ihnen eben welche, die ritzten. Als Ventil für die ganze Scheiße.

Und eine konnte die anderen damit anstecken, weil es cool war und man wurde wieder beachtet und die Erzieher nahmen sich Zeit für sie, versorgten die Schnitte, fragten nach dem Wohlbefinden. Meistens waren es Mädchen zwischen dreizehn und sechzehn. Sie ritzten mit allen was ihnen in die Hände kam. Da konnte man die ganzen Zimmer auf den Kopf stellen, irgendwas fanden sie immer, manchmal eine lose Schraube aus dem Bettgestell, oder ein abgebrochenes Lineal aus der Federtasche. Rasierklingen von der alten Sorte versteckten sie gern hinter der Akkuklappe ihrer Handys.

  • So, das wird halten – Robert schaute sich noch einmal den Verband an. – Soll ich dir noch einen Beruhigungstee machen?
  • Das wäre nett.

Robert ging in die Küche und setzte Wasser auf. Savannah folgte ihm auf Zehnspitzen, dann blieb sie verkrampft in der Tür stehen und lächelte ihn schief an. Was haben sich die Hartz IV-Eltern eigentlich dabei gedacht ihr so einen Namen zu geben? Savannah hieß „Einöde“ auf Deutsch, doch wie ein Stück Drecksland sah das Mädchen eigentlich nicht aus: sexy Figur, Barbieface ohne Akne, grüne Augen. Abgesehen von den Schnitten an beiden Unterarmen und den Oberschenkel, glatte Haut und dazu das lange, rötlich-braune Haar. Gab es da nicht diesen Spruch: Wo Rost auf dem Dach, da ist der Keller feucht? Vielleicht nicht unbedingt Sex, aber Liebe und Zuneigung brauchte sie auf jeden Fall, wie alle. Und natürlich Aufmerksamkeit, jede Menge davon. Aber Einzelbetreuung war hier nicht drin; der Personalschlüssel brannte auf Sparflamme. Doch soweit es ihm möglich war, versuchte Robert den Kids so viel Zeit zu schenken, wie es ging; gab sich Mühe mit den Kolleginnen zu heilen, was bereits unheilbar schien, machte mit den Kindern Ausflüge, hörte ihnen zu. Manchmal rächte sich das. Irgendwann sagte Savannah zu Robert, dass sie ihn liebt, und dass sie sich umbringen wird, wenn er ihre Liebe nicht erwidert. Den Schock suchte er damals so gut es ging zu verbergen und im Dienstzimmer redeten sie noch eine Weile über Liebe und Selbstmord; Robert handelte mit dem Mädchen Alternativen aus, die irgendwo zwischen der unerfüllten Liebe und dem bitteren und endgültigem Ende nisten sollten; alles Halbwahrheiten mit etwas Trost garniert.

Sie hatte keinen Suizid begangen, aber geritzt hat sie sich doch wieder und meinte dann zu Robert verbittert, dass es wegen ihm wäre. Wieder versorgte er die Schnitte und diesmal weinte sie still. In jener Nacht, nach dem zweiten Beruhigungstee, erzählte er ihr was von Anna Karenina, und dass es noch andere Auswege aus der Verzweiflung gäbe, wie bei diesem Kostja Ljewin. Robert wusste, dass sie es begriff, aber ihr verliebtes Herz lehnte es ab.

Als sie endlich in ihr Zimmer ging und Robert vom Balkon aus sah, dass bei ihr kein Licht mehr brannte, zündete er sich eine Zigarette an. Der Mond war bereits tief im Westen und ließ die Wolkenformationen am Horizont wie Bergketten schimmern. Richard blies den Rauch aus und wünschte sich dort oben zu sein, fern von hier.

Bildquelle: (c) PL

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