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Das Haus

Von Johanna Kindermann.


Die kalte Zimmerwand ist an meinen Nacken gepresst, ich schwitze, ich brenne, ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich muss weiter und ich verlasse den sicheren Schatten. Geduckt und so lautlos wie möglich husche ich in die nächste dunkle Ecke: Dort wo sich die Treppe biegt. Ich erlaube mir einige Sekunden zu verweilen, mein Atem rasselt und überschlägt sich.

Das Haus um mich herum ist endlos, es ist mein Universum, es ist mein Kerker, mein Jäger. Sein Inneres ist mit dunklem Holz verkleidet, ich spüre die polierte Oberfläche der Treppenseite. Ich schaue mich um, obwohl ich schon weiß, dass ich nichts finde, das als Waffe geeignet wäre. Das Haus ist leer und ich war schon in jedem Stockwerk. Jetzt bin ich im dritten. Oder im vierten, ich habe den Überblick verloren. Das Haus ist leer und einsam. Es gibt keine Möbel, nicht mal ein Nagel an der Wand. Nicht mal eine lockere Diele, nicht mal – ich schrecke zusammen und meine Hand fährt warnend hoch. Da war was. Ein Knarren. Eine Bewegung. Ich warte, starre angestrengt in den großen Raum vor mir. Es ist dunkel und doch sehe ich gut. Das Sternenlicht ist so hell, es ersetzt mir schon lange die Sonne.

Ich drehe mich um und zähle sie durch: Es sind fünfzehn. Fünfzehn, wiederhole ich die Zählung. Sie sind stets hinter mir und hören auf jede meiner Bewegung: Bleibe ich stehen, verharren auch sie. Renne ich, folgen auch sie. Fünfzehn. Dann renne ich los, die Treppe hinauf. Meine Deckung ist offen und mit fünfzehn anderen ist es unmöglich unentdeckt zu bleiben. Ich renne, denn mein Leben hängt davon ab, ebenso das von fünfzehn anderen. Wir trampeln und scheppern und ich erwarte jederzeit den Angriff. Die Treppenbiegung ist hinter uns, ich kann das nächste Stockwerk sehen, es ist geschafft – fast.

Die letzte Treppenstufe stellt mir ein Bein und im klaren Sternenlicht breche ich auf dem höchsten Punkt des Raumes zusammen. Chaos bricht unter meinen Schützlingen aus, sie kreischen, sie heulen. Sie sterben, denke ich. Einer von ihnen klettert auf das Geländer und stürzt sich hinab in die Dunkelheit. Während er beginnt zu fallen, dreht er noch einmal seinen Kopf zu mir und ich sehe seine aufgerissenen Augen. Ich bin noch auf Knien und Händen, doch ich treibe die anderen an, lenke sie in eine neue Ecke, kaum sicherer als die zuvor. Ich presse mich mit ihnen in das Halbdunkel. Ich zähle durch. Dreizehn.

Da sehe ich eine Tür. Eine Tür? Kann es sein, dass ich etwas so offensichtliches wie eine Tür übersehen habe, obwohl ich jeden Stock auswendig kenne? Ich zähle aus Gewohnheit noch einmal durch – dreizehn – und renne los, von den anderen gefolgt. Die Tür könnte unsere rettende Höhle sein. Aber ich weiß auch, dass sie genauso gut eine Falle sein könnte.

Ich erreiche die Klinke und stürze mich in den unbekannten Raum. Hinter mir folgen die anderen, ich schlage die Tür zu und stemme mich dagegen.

Wir verharren.

Warten.

Nichts passiert. Meine Schützlinge atmen wieder, lassen sich auf den Boden fallen. Ich zähle durch. Es sind acht. Ernüchterung erschlägt mich. Jede Kraft weicht aus meinem Körper und ich rutsche auf den Boden. Acht. Sie vertrauen mir. Sie denken, ich kann sie in Sicherheit bringen. Dabei kennen sie mich kaum und doch vertrauen sie mir ihr Leben an. Und ich habe nichts zu bieten, nur meine jämmerlichen Versuche. Ich bin schwach. Ich habe keine Waffen. Ich kann nichts. Und ich verliere einen nach dem anderen.

Ich versuche mich auf den Raum zu konzentrieren. Er ist klein und wirkt harmlos, natürlich ist er leer. Mein Blick bleibt an etwas an der Wand hängen. Neugierig komme ich näher. Es ist ein kleiner Bilderrahmen, das Bild darin zeigt eine lachende, junge Frau. Sie strahlt und ihre Augen erzählen von Glück. Eine versteckte Erinnerung des Hauses. Hier können wir länger bleiben.

Ich verschnaufe und lasse meine Gedanken wandern. Und plötzlich denke ich an eine Sommerwiese, ich spüre das weiche Gras und meine Hand macht tatsächlich eine Bewegung als streiche sie durch die Halme. Der Wunsch danach brennt stark in meiner Kehle.

Fragende Augen lasten auf mir. Wir hetzen durch das Haus, als wäre unser Leben noch etwas wert. Egal, ob wir hinauskommen; egal, ob wir sicher sein werden, wir werden in Gedanken immer hier in diesem Haus bleiben. Von Geistern befallen wie es selbst. Doch wir halten am Leben fest und rennen weiter.

Ich setze mich aufrecht auf und spüre das kalte Holz der Tür. Für einen Moment denke ich, das Holz sei ein Teil von mir. Ich sehe die anderen an. Elendig hängen sie auf dem Boden und hecheln. Sie werden dieses Sommerwiesenleben nie wieder erleben. Aber sie verdienen die Hoffnung darauf.

„Das hier ist ein Haus“, sage ich und habe die volle Aufmerksamkeit, „ein Haus mit Fenstern und Stockwerken. Es muss also auch eine Haustür haben. Wir gehen wieder runter, ins Erdgeschoss!“ Sie glauben mir, dass wir eine Chance auf Rettung haben.

Wir müssen weiter. Ich zähle noch schnell durch: Acht. Langsam drücke ich die Türklinke hinunter, die anderen stehen hinter mir und beobachten angespannt, bereit zum Absprung. In Gedanken habe ich den Weg nach unten vor den Augen, ich kenne das Haus als sei es mein eigenes. Jetzt: Ich reiße die Tür auf und wir stürzen nach draußen, neun erbärmliche Gestalten. Ich erwarte die gewohnte Dunkelheit, doch gleißendes Licht trifft uns und ich sehe nichts mehr. Starr vor Schock stehen wir alle im Gang, wie auf dem Präsentierteller. Futter für die Mama, sie muss nur zuschlagen. Alles ist besser als stehen zu bleiben. Ich hetze den Gang entlang und höre die anderen hinter mir, stolpernd und weinend. Ich fliehe hinunter, doch bleibe nicht stehen, es gibt keine dunklen Ecken mehr. Noch eine Treppe, noch eine, noch eine. Ich schaue nicht zurück, aber ich weiß, dass nicht mehr viele übrig geblieben sein können. Manchmal höre ich einen erstickten Aufschrei und einen dumpfen Laut, wie von einem Körper, der auf dem Boden aufschlägt.

Wir sind im Erdgeschoss. „Weiter“, rufe ich nach hinten und laufe durch die große Halle. Dann sehe ich die Haustür. Groß und rund, als wäre sie immer da gewesen. Mein Herz jubiliert, kann ich es wirklich schaffen? Plötzlich bleibe ich stehen. Drei Meter vor der rettenden Tür, meine verbliebenden Schützlinge scharen sich um mich. Ratlos. Hilflos. Es sind nur noch drei. Es ist still. Ich strecke meine hölzernen Glieder.

Oh ja. Ich gurre genüsslich. Ich bin das Haus. Ich war es immer. Das Licht geht aus und die anderen schreien. Dann greife ich an, zermalmend, knirschend und endgültig. Ich bin das Haus.


Bildquelle: (c) DA

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