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Der Mann mit der roten Weste

Von Nikola Henze.

Der Kellner servierte an einem Tisch im vorderen Bereich des Restaurants mehrere Teller mit dampfendem Schweinefleisch, Erbsen und Kroketten. Danach wandte er sich dem Nebentisch zu, nahm eine neue Bestellung auf, registrierte den Wink eines weiteren Gastes, der zahlen wollte, und ging zurück zur Theke, um die Rechnung auszuschreiben. Auf diesen Moment hatte die junge Frau am Eingang gewartet. Sie kam jetzt zögernd auf den Kellner zu.

“Entschuldigung, sind sie der Mann mit der roten Weste?” Sie trat nervös wieder einen Schritt zurück, zur sofortigen Umkehr bereit.

“Das sehen sie doch!” Ihre Ängstlichkeit reizte ihn. “Oder sind sie farbenblind?”

„Nein,… eigentlich nicht”, sagte sie eingeschüchtert. “Aber manchmal träume ich schwarzweiß.” Dann, Mut fassend: “Ich soll ihnen das hier geben!” und drückte ihm das Papier von der Jobvermittlung in die Hände, ein Durchschlag, der schon labberig von ihren feuchten Fingern geworden war.

Missmutig las der Kellner das Papier durch. Sie beobachtete dabei seinen Gesichtsausdruck, konnte jedoch keine Veränderung feststellen. In dem schroffen Tonfall sich gestört fühlender Menschen sagte er:

“Warten sie hier!”

Daraufhin schrieb er die Rechnung zu Ende und brachte sie dem wartenden Gast. Das ist eine Falle, dachte sie. Irgendetwas stimmt nicht, aber sie konnte sich nicht erinnern, ab wann ihr die Sache merkwürdig vorgekommen war. Als der Kellner zurückkam, sagte er in einem etwas wärmeren Tonfall:

„Kommen sie mit!“

Er mochte sie zwar nicht, aber sie tat ihm irgendwie leid. Sie ist so unerfahren, dachte er, während er auf eine Tür am Ende des Gastraums mit der Aufschrift “Privat” zu schritt. Der Kellner öffnete sie und wartete ungeduldig darauf, dass sie nachkäme. Bestimmt hat sie noch nie im Leben ein Tablett balanciert; wenn sie wenigstens die Schultern nicht so hängen lassen würde! Bestimmt ist sie eine Studentin, überlegte er. Jetzt sah sie ihn fragend an.

„Hier ist es”, antwortete er und deutete in den unbeleuchteten Raum: “Gehen sie da hinein!”

Mit verquälter Langsamkeit kam sie seiner Aufforderung nach, hoffte noch, dass er sie zurückriefe. Stattdessen schob er sie hinein, schloss die Tür hinter ihr und drehte sich mit der Eleganz eines Oberkellners auf dem Absatz um. Er hatte seine Pflicht erfüllt.

Im ersten Moment dachte sie noch, dass sie hier warten solle, bis der Kellner zurückkäme, um sie an einen anderen Ort zu bringen. Sie stand im Dunkeln und versuchte, ihre Augen daran zu gewöhnen. Nur durch eine winzige Luke drang ein Hauch von Licht. Sie kam zu dem Schluss, dass sich das Fenster mehrere Meter über ihr befinden musste, weil es ihr so klein erschien. Mittlerweile konnte sie erkennen, dass der Raum die Größe eines Toilettenvorraums besaß. Links von sich entdeckte sie eine zweite Tür. Damit war die Hoffnung, dass der Kellner wieder käme, endgültig zerschlagen. Sie musste diese Tür selbst öffnen. Zunächst suchte sie nach einer Klinke, vergeblich, bis sie begriff, dass sie eine Schiebetür vor sich hatte, die auch noch klemmte. Mit einem Ruck zog sie das Ding auf und schlüpfte zwischen den Ziehharmonika-Lamellen hindurch, bevor diese ihrer Eigenspannung nachgaben und sich wieder ausdehnten.

Der Raum, der vor ihr lag, war nicht besonders groß und diffus beleuchtet. Sie konnte nicht erkennen, woher das Licht kam. Wie der Vorraum schien er mehrere Meter hoch zu sein, besaß aber kein Fenster.

“Trau dich!” begrüßte sie eine bekannte Stimme.

In der Ecke links von ihr saß ein Mann in einem Schaukelstuhl. Eine gefährliche Ruhe breitete sich aus. Sie wusste nicht, wer er war, aber sie kannte ihn schon lange. Das Schreckliche war: er kannte sie noch länger. Jetzt fing er an, vergnügt zu schaukeln. Um Zeit zu gewinnen, sah sie sich um, doch der Raum, der an einen Kellerverschlag erinnerte, war fast leer. Nur an der Wand gegenüber hing ein schiefes Brett, auf dem etwas lag. Sie machte einen unbeherzten Schritt darauf zu. Es war ein Revolver, dessen Lauf in Richtung des Mannes zeigte, soviel konnte sie erkennen.

“Ja, ja”, kicherte er, “du siehst richtig!”

Sie dachte fieberhaft nach: Er rechnete damit, dass sie ihn nicht erschießen würde. Dass er den Lauf in seine Richtung zeigen ließ, war reine Provokation. Er kannte die tausend Gründe, weshalb sie es nicht tun konnte. Also sollte sie es doch tun. Nein, auch damit rechnete er. Der Tod würde ihm nichts bedeuten. Noch im Augenblick des Sterbens würde er sich darüber freuen, dass die Folgen an ihr hängen blieben.

“Du kannst dich natürlich auch selbst erschießen”, sagte er freundlich, so als wolle er ihr helfen und schaukelte aufmunternd weiter.

Sicher, auch das war eine der Möglichkeiten, die ihn zum Ziel führten. Ihr fiel auf, dass er den Schaukelstuhl mit den Händen und einer Bewegung des Oberkörpers in Schwung hielt. Seine Beine ruhten leblos auf der Fußstütze. Sie war bei dem Unfall dabei gewesen, fiel ihr ein. Aber sie hatte ihn nicht verursacht. Der Schweiß rann ihr die Achseln hinunter.

“Ist er wirklich geladen?” fragte sie mit brüchiger Stimme.

“Natürlich, was denkst du denn?”

Sie wunderte sich, dass sie sich in einem Zustand der Todesangst noch lebendiger fühlte als sonst. Der Schweiß ihrer Achseln hatte inzwischen die Bluse durchnässt. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich umzuziehen. Merkwürdig, woran man so dachte. Draußen war es kalt gewesen.

“Na, noch keine Entscheidung gefallen?” Er hielt jetzt an und stützte sein Kinn auf die Hände.

Plötzlich hatte sie eine Idee – sie erkannte seine Augen – und erwiderte:

“Ich muss überhaupt nichts tun!”

In seinem Blick verstärkte sich der melancholische Ausdruck, obwohl er gleichzeitig höhnisch grinste. Dieser Kontrast hatte sie schon immer fasziniert.

„Schade, ich hätte gern gesehen, wie du dich mit einem Spielzeugrevolver abmühst. Jetzt gibt es natürlich auch kein Honorar.”

Sie war müde vor Verwirrung. Wortlos verließ sie den Raum und ging zurück in das Restaurant. Dass sie wieder normal sehen konnte, bemerkte sie erst, als ihr die knallrote Weste des Kellners ins Auge stach. Der Gastraum hatte sich inzwischen merklich geleert, aber noch immer eilte er geschäftig zwischen den Tischen hin und her.

Bildquelle: (c) NH

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