Novelle

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2015

Von Martin Schwietzke.

Im Jahr 2015, so dachte man früher, würde alles ganz anders sein. Die Autos würden natürlich fliegen, und Handys – wenn es sie überhaupt je gegeben haben würde – würden schon wieder obsolet sein, da es allerorten von Freisprechanlagen nur so wimmeln würde. Die damit einhergehenden Videokonferenzen würden selbstverständlich in 3-D stattfinden, sprich: mittels Hologrammen, also (vermutlich eher schwarz-weißer, aber sonst beinahe täuschend echter) Videoprojektionen des jeweiligen Gesprächspartners. Die Menschen würden mindestens den Mond oder den Mars besiedelt haben, da würde zum Beispiel mein ehemaliger Zivikollege N. wohnen können, und ich würde ihn dort besuchen. Reisen würde ich mit einem Weltraumshuttle oder “Weltraumbus“, wie man sagen würde, und N. würde mich am “Weltraumbahnhof“ selbstverständlich abholen.

Uneins waren sich die Katechismen der Futurologie u.a. darin, wie man sich auf der Mars- bzw. Mondoberfläche fortbewegen würde. In manchen Darstellungen hatten die Autos allesamt gläserne Kuppeldächer, an denen sich zwar keinerlei Rückspiegel anbringen lassen würde, unter denen sich jedoch der auch auf Mond und Mars lebenswichtige, dort aber umso kostbarere Sauerstoff würde zusammenhalten können. Anderen Denkern zufolge würden auf modern getrimmte Cabriolets durch gläserne Pipelines sausen, die kreuz und quer über die Oberfläche des jeweiligen Himmelskörpers verlaufen und hinsichtlich der menschlichen Atmung eine ähnliche Funktion erfüllen würden wie die kuppelförmigen Autodächer. Oder würde man einfach, wie bei Bradbury, so viele Bäume pflanzen, dass der von diesen produzierte Sauerstoff ausreichen würde, um ein Atmen zu ermöglichen, und dementsprechend ganz normale Autos wie auf der Erde fahren, die diese Luft dann wieder verpesten würden?

Für die hier zu schildernden Umstände hoffe ich auf die dritte oder zumindest zweite Variante, denn während ich N. gerade bedröppelt davon erzählen würde, dass ich einige Notizen – in Papierform – für einen Roman im Weltraumshuttle liegen gelassen haben würde, würde er einen kurzen Moment lang nicht aufpassen und einen Unfall verursachen: Wir würden mit einem anderen Auto zusammenprallen, und weil ich einerseits glaube, dass die Scheiben eines dann ganz gewöhnlichen Autos nur schwerlich unkaputtbar sein würden, wir aber andererseits wegen des bisschen Auffahrunfalls nicht gleich würden ersticken dürfen, würde es da irgendwo um uns herum so etwas wie eine Atmosphäre geben müssen, woher auch immer.

Dann würde aber das Peinliche kommen. Peinlich nicht für mich, denn ich würde einfach erstmal aussteigen und den Fahrer des anderen Autos wüst beschimpfen. N. würde versuchen, mich zu beruhigen, erst recht nachdem er bemerkt haben würde, dass es sich um seinen guten Bekannten B. handeln würde, und bei dessen Beifahrerin um seine gute Bekannte E. Peinlich also daher, dass die beiden, wie N. mir später erklären würde, eigentlich mit L. bzw. mit O. verheiratet sein würden und ihnen so an Ort und Stelle auch keine plausible Begründung dafür einfallen würde, am helllichten Tag in Zweierkombination auf dem Mars oder Mond herumgekurvt zu sein.

Das würde natürlich sofort meine Neugierde wecken und mich ein wenig den Schmerz um das verlorene Romanfragment vergessen lassen, zumal N. gleich anfangen würde, von der Versicherung zu sprechen. B. würde das gar nicht recht sein, da sein Auto auch auf L.s Namen gemeldet sein und diese also zwangsläufig Wind davon bekommen würde, dass E. bei alledem Zeugin und deshalb auch irgendwie mit von der Partie gewesen sein würde.

B. würde ein relativ großzügiges Angebot machen, um die Angelegenheit unbürokratisch aus der Welt zu schaffen: Wenngleich ja N. für den Unfall verantwortlich gewesen sein würde, würde B. versprechen, ihm alle anfallenden Reparaturkosten zu erstatten, natürlich in bar, denn über sein Konto samt Information über die dort ein- und ausgehenden Zahlungen würde L. ja ebenfalls mitverfügen, und B. würde auch keine gute Ausrede dafür wissen, N. aus heiterem Himmel eine so exorbitant hohe Summe überweisen zu müssen. Ein paar Mal etwas mehr abzuheben als gewöhnlich und die Summe danach N. zu überreichen, würde ihm dagegen weit weniger unvertuschbar erscheinen.

Mein Teil der Abmachung würde allein darin bestehen, zu keiner Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen über all das zu verlieren, und wenn doch, dann rein hypothetisch und ohne Klarnamen. Soweit die Theorie. In der Praxis jedoch würde ich mich ein paar Tage später nochmal auf den Weg zum Weltraumbahnhof begeben, um bei der Shuttlebetreiberfirma nachzufragen, ob da nicht doch vielleicht irgendeine aufmerksame Seele an Bord ein paar beschriebene Blatt Papier gefunden haben würde – ich würde schließlich einer der letzten Menschen sein, die sich noch dieses analogen Schreibmaterials bedienen würden, insofern würde das doch jemandem aufgefallen sein müssen.

Dort um die Ecke würde ich zufällig B. und L. treffen, bzw. sie mich. B. würde mir erst instinktiv zunicken, dann plötzlich innehalten und noch – zu spät – versuchen, diese ganze Bewegung seiner Frau gegenüber als nervöses Zucken zu camouflieren; schließlich würde er ihr doch gerade erst eine gewaltige Räuberpistole aufgetischt haben und sich nun zwecks innerehelicher Glaubwürdigkeit nicht um die entsprechenden juristischen Schritte drücken können, so dass er soeben Anzeige gegen unbekannt wegen eines Unfalls mit anschließender Fahrerflucht erstattet haben würde. Um deren letztendliche Folgenlosigkeit zu gewährleisten, würde er natürlich beteuert haben, sich weder an das Aussehen des fremden Fahrers noch an das betreffende Autokennzeichen erinnern zu können.

Im Handumdrehen würde bei L. dann der Groschen fallen, dass B. und ich uns schon einmal gesehen haben würden, und dann würde alles ohnehin nur noch eine Frage der Zeit sein. Ich würde wahrheitsgemäß berichten, dass ich ein ehemaliger Zivikollege von N. bin und seit ein paar Tagen hier auf dem Mond oder Mars zu Besuch sein würde. Wie lange denn schon genau, würde L. einfach so daherfragen und dann aber Lunte riechen, da ich just an jenem Tage angekommen sein würde, an dem B. seinen dubiosen Verkehrsunfall gehabt haben würde. Und nicht allein das: In den paar Tagen seit meiner Ankunft würde ich auch schon Gelegenheit gehabt haben sollen, ihren Mann kennen zu lernen – das würde ihr doch reichlich Spanisch vorkommen, würde er doch ebenjene Tage hindurch aufgrund des beschädigten Autos nur eingeschränkt mobil gewesen sein und sich obendrein auch noch die Hacken abgelaufen haben vor lauter Polizei und Anwalt und allem. Wenn mir dann gleich noch nichts anderes übrig bleiben würde, als ihre Suggestivfrage, ob N. mich denn nun auch gleich wieder vom Weltraumbahnhof abholen würde, zu verneinen, würde sie nachbohren und fragen, warum denn nicht, und was würde da wiederum mir auf die Schnelle in den Sinn kommen außer einem kleinen bisschen Wahrheit? Nun würde L. erst recht misstrauisch werden: Zwei Unfälle mit Fahrerflucht am selben Tag, noch dazu von zwei Leuten, die einander so gut kennen würden, und obendrein auch mich, das würde doch ein allzu großes Zusammenspiel der Eventualitäten gewesen sein, auf sowas würde man erstmal kommen müssen!

B. würde mich und mein angefangenes Romanmanuskript innerlich verfluchen und mich in Verbannung auf den Plutomond Charon wünschen. Würde aber alles nichts nützen, denn auch ganz ohne mich würde sich seitens E.s notorisch eifersüchtigen Ehemanns O. neue Unbill anbahnen. Dieser würde B. höchstselbst über den Weg laufen, ausgerechnet wenn dieser sich gerade zu jenem geheimen Treffen begeben würde, bei dem er N. das für die Reparatur notwendige Bargeld würde überreichen sollen. Was das denn für ein Köfferchen sei, das er da spazieren trage, würde O. fragen, und B. würde, so dumm er sich auch würde stellen mögen, nichts dergleichen leugnen können; er würde das Köfferchen tatsächlich sehr offen herumtragen, denn Angst vor Dieben würde man im Jahr 2015 auf offener Straße nicht mehr haben müssen, zumal in so fortschrittlichen Gefilden wie Mars oder Mond. Zu absurd würde selbst potenziellen Strauchdieben allein schon der Gedanke erscheinen, jemand könne eine größere Summe in Scheinen oder Münzen mit sich herumtragen, denn das würde ja sooo 20. Jahrhundert sein… Umso seltsamer würde es allerdings auch O. vorkommen, erst recht da B. gar nicht so der Typ sein würde für das Festhalten an überkommenen Sitten und Gebräuchen aus Erdentagen. Ein Verdachtsmoment also.

Dann würde B. sich nicht anders zu helfen wissen als mit dem Ad-hoc-Geständnis einer angeblichen zwielichtigen Tätigkeit, das er glauben würde, seinem Bekannten anvertrauen zu können: Er würde aus dem Stegreif herbeiphantasieren, dass das Geld aus dem Drogenhandel stamme. Denn das würde ein weiteres “Problem“ auf dem Mond bzw. Mars sein, selbst unter Berücksichtigung der bradburyschen Idee der aktiven Bepflanzung; zumindest in den ersten Jahren oder Jahrzehnten der Besiedelung würden ja so viele Aspekte des gesellschaftlichen Lebens von NASA und Konsorten organisiert werden, dass es kaum unbeobachtete Hinterhöfe oder versteckte Waldlichtungen geben würde, wo man irgendetwas – und seien es nur ein paar Kokablätter – heimlich würde hegen können. Dementsprechend würde der illegale Import von der Erde blühen, dem sich dann auch jemand hauptamtlich würde widmen müssen.

Dass gerade O. so ein Jemand würde sein können, würde B. ja kaum geahnt haben, und wie wenig taub also die Ohren sein würden, auf die sein falsches Geständnis stoßen würde, schon gar nicht. B. würde gedacht haben, O. ganz schnell und nebenbei von seinen fiktiven Aktivitäten erzählen zu können, so wie er umgekehrtenfalls einem offenkundig dealenden Bekannten oder einem vielleicht etwas wohlwollenden Polizisten etwas von einem zu vertuschenden Autounfall und einer heimlichen Affäre vorgeflunkert haben würde. So aber würde O. in B. einen unerwünschten Rivalen sehen und, schlimmer noch, in seinem Tun ein letztes Zucken oder gar erneutes Aufbäumen einer tot geglaubten – weil überzeugend mit dem Tode bedrohten – Konkurrenz. Um sogleich ein Exempel zu statuieren, würde einer seiner Leute relativ zeitnah N., den O. bei der Geldübergabe gesehen haben würde, sowie B. einen normalerweise auch dem schlimmsten Feinde kaum zu wünschenden Tod bescheren.

B.s Frau und N.s Mutter würden sich wünschen, dass die beiden in Heimaterde (also mit Betonung auf dem zweiten Wortbestandteil) begraben werden würden, und ich würde mich als Begleitperson des Leichentransportes im Weltraumshuttle anbieten, weil ich ja ohnehin irgendwann wieder vom Mars bzw. Mond würde zurückkehren müssen, und zumindest das würde ich meinem alten Zivikollegen N. schuldig sein. Natürlich würde ich mir schreckliche Vorwürfe machen, schließlich würde N. an jenem schicksalhaften Tage ja nur in Richtung Weltraumbahnhof aufgebrochen sein, um mich dort abzuholen. Andererseits, so würde ich mich trösten, würde auch niemand ahnen können, was ihm ohne mich und meinen Besuch widerfahren sein würde, vielleicht gar noch Schlimmeres?

Mir gegenüber würde die frisch verwitwete L. sitzen, die einerseits ganz fassungslos vor den angeblichen Enthüllungen von Schmuggler- und Dealertätigkeiten ihres verblichenen Gatten stehen, andererseits aber nicht die leiseste Ahnung von dessen amourösen Abenteuern mit E. haben würde. Die Pietät würde mir sowohl die Preisgabe der mir dazu bekannten Details als auch das allzu intensive Grübeln darüber verbieten, welchen meiner gerade beziehungslosen Freunde ich vielleicht mit dieser, genauer betrachtet, wunderschönen Frau würde bekanntmachen sollen. Das heißt, nicht nur die Pietät: Ich würde ja auch nicht wollen können, dass eine so wahre Enthüllung sie mitten in ihrer Trauer zu dem Schluss kommen lassen würde, dass Männer eben doch geradezu überall Schweine seien – auf dem Mars, auf dem Mond, und auf der Erde sowieso –, und meine Freunde und ich so ebenfalls unter Pauschalverdacht geraten würden. Oder dass sie ein allzu plumper Verkupplungsanbahnungsversuch meinerseits die Tatsache beklagen lassen würde, dass Männer immer nur an das eine dachten, oder zumindest ich, zumindest in einem solch tränengeladenen Augenblick. Ich würde also harmlos tröstend und verhohlen starrend dieser Frau gegenübersitzen und mir den Kopf darüber zermatern, wie mir doch noch irgendwie das Einlegen eines guten, weil zukunftsträchtigen Wortes für irgendjemanden gelingen mögen würde.

Heute weiß man, dass alles ganz anders gekommen ist. Auf dem Mond war schon seit Jahrzehnten keine Menschenseele mehr, eine bemannte Marsmission ist immer noch in Planung, und von meinem alten Zivikollegen N. habe ich auch schon ewig nichts mehr gehört.

Bildquelle: (c) DA

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