Von Lena Hellermann.
Ich fiel.
Nicht das ich mich irgendwie von dem Ort, an dem ich mich befand, wegbewegt hatte, doch ich hatte das Gefühl zu fallen, und deshalb tat ich es. Entgegen aller physikalischen Gesetze und Regeln der Vernunft stürzte ich nach unten, durch den kahlen, kühlen Steinboden hindurch in das schwarze Loch in meinem Kopf. Hätte ich einen klaren Gedanken fassen können, wäre mir vielleicht aufgegangen, dass dieses Loch schon länger da war, ich mich nur geweigert hatte, es zu bemerken. Doch jetzt war es da, so übermächtig und beängstigend, die Ränder so weit auseinander, dass es keine Möglichkeit gab, sich daran festzuhalten.
Ich schrie nicht – wieso sollte ich auch schreien, ich war in meinem Kopf – doch meine Augen waren weit aufgerissen, versuchten die Dunkelheit der absoluten Schwärze zu durchdringen. Dass das nicht möglich war, war mir bewusst, doch egal. Es war ja auch unmöglich zu fallen.
Die Wände kamen näher.
Das taten sie doch immer? Die Wände im Alltag, diese Mauern aus Zement und vergessenen Träumen, der Angst zu versagen, und dem kleinen Beigeschmack vertaner Chancen, sie rückten doch immer näher, begannen mich zu erdrücken. Und wieso sollten dann nicht auch hier die Wände zusammenrücken, mich eingrenzen, in die Enge treiben? Ich konnte nichts tun, außer mich so dünn wie möglich zu machen, die Arme an der rauen Wand aufzuschürfen, nur um weiter zu fallen, zu fallen, zu fallen, in dieses bodenlose Loch.
Wir fielen.
Wer fiel denn nicht? Wir waren doch alle gefallen, gefangen, in diesem Loch. Die Wände zu glatt, um sich festzuhalten, doch rau genug, um sich zu verletzen. Mal jagten wir einer Lichtgestalt hinterher, jemandem, der diese Dunkelheit erträglicher machte, doch es waren nur Träume, die zerplatzten, sobald man sie berührte. Manchmal jagten wir einander, fielen eine Weile gemeinsam, doch jede Trennung war eine Explosion, die unseren Fall noch beschleunigte. Wir sehnten uns danach, irgendwo anzukommen, doch den Aufprall, das einzige Ziel, dass zu erreichen war, fürchteten wir. Also jagten wir weiter dem trügerischen Licht, suchten Ziele, Erfolge, alles, was uns vor dem kommenden Aufprall ablenkte. Gaben uns der Hoffnung hin, diese Dinge könnten uns etwas Dauerndes, Erfüllendes geben. Doch wie kann man auf der Jagd nach etwas, dass nicht existiert, mehr als nur eine flüchtige, vergängliche Erfüllung finden? Wie kann man auf der Suche nach Ungewöhnlichkeiten, Seltsamkeiten, der fremden vertrauten Wahrheit, unseren Kopf davor bewahren, zu zerspringen, weil er es nicht aushält, aus der Bahn geworfen zu werden?
Alle fallen.
Fallen, in ihr eigenes, persönliches Loch, ihre Ängste ihr Leben. Die Angst vor dem Aufprall bestimmt alles, auch die Art, wie man fällt. Manche kämpfen, versuchen zu entkommen, wo es kein Entkommen gibt. Manche versuchen sich abzulenken, durch flüchtiges Glück, flüchtige Momente, die im nächsten Moment wieder zerspringen und nichts als Leere zurücklassen. Manche hängen ihre Hoffnungen an ein mehr oder weniger existentes Wesen – Es ist in ihrem Kopf, also muss es doch existieren? Genau wie der Fall – und an das Versprechen, dass da etwas nach dem Aufprall kommt, und wenn es ein erneuter Fall ist.
Und dann gibt es da noch die, die aufgegeben haben. Den Fall wahrnehmen, ihn manchmal versuchen zu beschleunigen. Wer in die Augen eines solchen Menschen sieht, kann das Loch in seinem Inneren sehen.
Der Wunsch nach dem Aufprall.
Einem Tod?
Einem Ende.
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