Von Manuela Bibrach.
Schöne Tage. Schöne Sommertage. Schöne Wintertage. Von den Herbsttagen ganz zu schweigen. Nur Frühlingstage kann Heinz nicht leiden. An Frühlingstagen flattert alles: die Vögel in der Luft, die Röcke der Frauen um volle Schenkel, die Blusen, die Busen, Heinz’ Herz. Die Eile der Tiere, sich paaren zu wollen, das Schieben und Drängen der Knospen und Triebe machen Heinz konfus. An Frühlingstagen bleibt Heinz zu Hause und schaltet den Fernseher an. Auf RTL zeigen sie schon ab Februar flauschige Hasen und bunte Eier. Werbepausenfüllsel. Osterstimmungskanonendonner. Glitzer mit Schleifchen. Auf N24 sieht man Hitler verlieren. Immer wieder. Obwohl er nicht den Nimbus des Verlierers hatte. Am Anfang. Auf den Programmen nach der 300 zeigen Frauen das Beste. Gottesgaben in Tüll. Glitzer mit Schleifchen. Bunte Eier. Ab und zu greift Heinz in die Gebäckschale aus Pressglas. Salzstangen und Flips. Brezeln und Chips. Heinz sitzt still. Draußen flattert die Welt. Hitzig will sich das Leben erneuern. Und dreht sich im Kreis. Die Gardine vor dem Fenster verhindert, dass Heinz das Flattern und Drehen sehen und sich aufregen muss. Abends lässt Heinz das Schnapprollo runter. Man sieht dann von draußen nicht, womit er sich beschäftigt gegen die Unruhe. Zum Beispiel mit Bier. Oder mit Kreuzworträtseln, in die vom Herausgeber immer schon ein paar Buchstaben eingetragen wurden, damit der Anfang nicht so schwerfällt. Köder. Wenn Heinz ein Wort nicht weiß, füllt er die Felder mit Erfundenem. Weil keiner es merkt, ist egal, ob er es richtig macht. Heinz genießt die Freiheit, sich Worte ausdenken zu dürfen, die niemand lesen wird, weil er die Zeitung, in der die Rätsel abgedruckt sind, am Ende zum Anheizen benutzt. Manchmal werden es kleine Romane, kompliziert ineinander verstrickte Handlungsmuster. Waagerecht und senkrecht. Liebesromane. Mag Heinz am meisten. Mit blauen Augen und Locken und viel Landschaft. Berge und Meer. Schafe und Kühe. Katzen und Hühner. Am Ende ein Kuss. Heinz ist Romantiker. Und allein. Weil Frauen das Weiche im Mann ablehnen. In Heinz. Ist es weich. Weil Frauen selber weich sind, suchen sie im Mann etwas Hartes. Glaubt Heinz. Man sieht es auch in den Filmen und Serien. In den Doku-Soaps. Im Vorabendprogramm. Kernige Typen und Damen mit Herz. Gegensätze ziehn sich an. Und aus. Heinz zappt durch die Sender. Greift zum Gebäck. Cracker sind auch hart. Kross. Auf RTL zeigen sie schon ab Februar flaumige Küken in grünen Kunkeln. Glitzer mit Schleifchen. Gottesgaben in Tüll. Das Beste. Auf N24 explodiert das Universum. Immer wieder. Bunte Planeten spritzen durch das All. Auf der 4 Bernd das Brot. Noch weicher als Heinz. Gefangen im System. Links raus und rechts wieder rein. Das Brot im Tütü. Das Brot mit Hut. Schöne Tage. Im Sommer. Im Winter. Im Herbst. Vor allem im Herbst. Weiche Farben überall, mit denen Heinz sich identifizieren kann. Schöne weiche Farben. Wenn es draußen stirbt, lebt Heinz auf. Viel Wind, kein Flattern. Schön.
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Renate löscht. Das Licht.
Noch ein Glas. Renate schenkt sich ein. Wurzelpeter, Zweigelt, Kadarka. In der Hausbar klirren die Gläser. Wenn Renate durch den Raum geht. Geben die Dielen unter ihren Füßen unmerklich nach. Eine der Dielen ist lose. Geheimversteck! Renate schenkt sich ein. Saurer Apfel, Goldkorn, Sambalita. Der Wellensittich taucht den Schnabel in die Körnermischung, die aus seinem Futterröhrchen quillt. Über Renates Kopf knarren Dielen. Auf dem Kachelofen liegt eine feine Ascheschicht. Renate legt nach. Die Katze auf dem Sofa. Liegt auf dem Rücken. Das kleine Dreieck weiß gefärbten Fells an ihrem Bauch. Leuchtet. Die Katze ist schwarz. Wenn man das Dreieck streicheln will, krümmt sich die Katze blitzschnell zusammen und beißt. Weiß Renate. Katzen sind Raubtiere. Und schnell. Ein LKW fährt am Fenster vorbei. Die Scheiben klirren leise. In der Hausbar zittern die Gläser. Renate schenkt sich ein. Eierlikör, Asbach Uralt, Schwarzer Kater. Ein Papierschirmchen fällt zu Boden. Wenn Renate Geburtstag hat, kauft sie sich einen Pfannkuchen und steckt das Schirmchen hinein. Wenn sie den Pfannkuchen aufgegessen hat, faltet sie das Schirmchen wieder zusammen und leckt den Holzstiel ab. Legt das Schirmchen zurück. Fürs nächste Jahr. An Renate werden die Dekohersteller nicht reich. Der Wellensittich sitzt in der Türöffnung seines Vogelbauers. Er kann mit dem Schnabel den Riegel aufknipsen. Wellensittiche sind intelligent. Er will jetzt fliegen. Bis zur Gardine, wo er sich festkrallen kann und Fäden ziehen. In der Hausbar klirren die Gläser. Katzen sind Raubtiere. Und schnell. Eine blassblaue Feder gleitet zu Boden. Sanft. Die Gardine hängt still. Renate schenkt sich ein. Pfeffi, Wodka, Rum.
Maslow. Im Ernst.
Ernst hatte das Ruder rechtzeitig herumgerissen. Es allen zeigen. Richtig auf die Kacke. Nie getraut, aber jetzt! Erst mal alles schmeißen. Den Job. Die Freunde. Die Ehe. Arsch voller Tränen, aber fette Rosinen im Kopf, hatte seine Frau gesagt. You’re a Loser, Baby, hatten die Freunde gelacht und fettige Pizza gekaut. Zum Aufsteigen haben Sie nicht die richtigen Schuhe an, hatte der Chef gewitzelt und lässig im Sessel gefläzt. Gehen Sie zurück zu Feld eins, stand in der Spielanleitung bei der grün markierten sechsunddreißig, auf die Ernst sich gewürfelt hatte und plötzlich kapierte. Alles auf Anfang. Ernst der Drachenbaum, der wächst, indem er die unteren Blätter abwirft. Oben kommen bessere nach. Das neue Leben. Studieren vielleicht. Oder Kunst. Berühmt. Prominent. Ernst hatte investiert. Geld, Zeit, Nerven. Vor allem Nerven. Lagen blank nach paar Jahren. Wer hoch hinaus will, muss leiden. Dachte Ernst. Erst mal. Und später dann richtig sauber happy. Von ganz oben runter gucken auf die anderen. Endlich Spitze. Ernst hatte recherchiert: Maslowsche Bedürfnispyramide. Die Basis muss stimmen – Nahrung, Sicherheit, Soziales. An der Spitze, wenn die Pyramide steht, die Selbstverwirklichung. Bei Ernst stand alles. Sicher. Zeit für die Kuppel auf dem Dach. Ernst hatte aufmerksam zugesehen und gelernt. Aus Märchen, aus Mythen. Dass man sich nicht umdrehen darf. Dass man immer weitergehen muss. Die Geräusche der Dämonen im Rücken. Augen zu und durch. Wenn man Drachenbäume zu oft gießt, gehen sie ein. Die Wurzeln faulen. Die Blätter fallen. Alle. Nicht nur die unteren. Hatte Ernst erst erkannt, als das letzte Blatt schon lose war. Schob oben nichts mehr nach grüner und besser. Versumpfte Erde und knorpelige Stängel ohne Aussicht auf ein Wunder. Biomüll.
Ernst kocht Kaffee. Gibt Sahne rein, zwölf Prozent. Wer hat, der hat. Wenn das Telefon klingelt, checkt Ernst die Nummernanzeige und tippt die Zahl bei Google ein. Pawlowscher Reflex. Vielleicht die Zeitung. Ein Produzent. Ein Mäzen. Ernst hat schon Pferde kotzen sehen. Meist wollen ihm aber nur Callcenter mit rhetorischen Tricks an die Tasche. Mehr Strom für weniger Geld. Ergo Direkt. Hubschrauberrettung. Tiere in Not. Ernst war selber mal ein Tier in Not. Ein dürftiger Gaul im Angorapullover. Eigentlich sollte er im Kindergarten den Froschkönig spielen, aber weil er zu schüchtern war, ihm die Worte wie Bauklötze im Mund lagen, musste er raus aus dem Brunnen. Wurde zum Pferd mit weißer Strumpfhose und Federbüschel am Kopf. Ganz am Ende des Märchens zog er die Kutsche mit dem glücklichen Paar, Prinz und Prinzessin mit Perücke und Krönchen. Ein Zwei-Minuten-Auftritt mit wenig Getrappel und gesenktem Blick. Dem Kutscher Heinrich sprangen die eisernen Bande vom Herzen, weil sein Herr vom bösen Zauber befreit war. Ernst sprang auch. Vor dem Blick seiner Mutter bei der Aufführung. Die Eltern in großem Rund im Spiel- und Speiseraum. Vom Froschkönig zum Strumpfhosen-Schimmel. Pferde sprechen nicht. Die goldene Kugel. Die Prinzessin. So schön, dass die Sonne. So traurig, dass es einen Stein. Ernst sammelt Froschkönige. Seit Jahren. Auf Tassen, als Nippes, aus Plüsch. Um sich zu beweisen, dass er es kann. Positiv denken. Chancen nutzen. Treppchen putzen. Ernst hat es geschafft. Er klebt am Märchenhimmel und starrt nach unten. Kurzsichtig. Alles unscharf und zu weit weg. Von der Spitze der Pyramide aus. Trotzdem happy. Die Basis muss stehen. Ernst wiehert: Selbstverwirklichung.
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No Alarms. No Surprises.
Conni klickt auf den Pfeil. Janis Joplin. Little Girl Blue. Conni lässt das Video durchlaufen, hängt gebannt an der Mimik der Sängerin. Körpersprache. Wie Janis nach der ersten Strophe kurz zurücktritt, das Publikum mustert. Scheinbar zögert. Dann wieder entschlossen nach vorn ans Micro, es greifen, mit beiden Händen. Und singen. Singen! Conni klickt auf den Pfeil. Noch mal von vorn. Little Girl Blue. Verletzlich, verletzt. Conni fühlt ein Krampfen in der Brust. In der Mitte, zwischen den Rippen, klumpt es. Wie ein Knoten, der, von Trauer gespeist, immer größer wird. Sich rund frisst an Connis Kummer. Der gar nicht der eigene ist. Aber doch. Irgendwie. Conni klickt weiter. Janis Joplin. Summertime. Geiles Intro. Janis’ Einsatz, erst nur Haare, dann das Gesicht. Und Stimme. Stimme! Alles schwarz-weiß aber zehnmal bunter als Connis Leben. Heißer. Inniger. Summertime. Der Regisseur in Connis Theatergruppe hatte damals gesagt, Janis sei hässlich gewesen. Conni sieht grandiose Schönheit. Sie schaut in Janis hinein. Wie der Fuchs in der Geschichte vom Kleinen Prinzen. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Conni fühlt keinen Neid. Nur Schmerz. Den eigenen. Janis hat ihn ans Licht gesungen. Jetzt flackert er durch Connis Gliedmaßen. Erreicht den Kopf. Nistet sich ein. Conni klickt weiter. Judy Garland. Over the Rainbow. Connis Augen können endlich loslassen. Gelöster Kummer in Salz. Conni schleckt. Sie kann Tränen im Gesicht nicht leiden. Wenn sie als Kind im Bett lag und weinte, liefen ihr die Tränen in die Ohren. Conni hasst das Gefühl noch heute. Wenn sie im Bett liegt und weint. Tränennasse Ohren sind das letzte. Conni klickt weiter. Queen. The Show must go on. Freddy im rosa Westover. Freddy in der Schokotorte. Freddy mit Bananenkopf. Inside my heart is breaking. My make-up may be flaking. Conni trägt kein Make-up. Weil sie eine natürliche Schönheit ist. Das spart Geld. Außerdem würde es ohnehin niemand sehen, wenn Conni sich schminken würde. Klick. Depeche Mode. Precious and fragile things need special handling. Den Link zu dem Song hatte ihr der Ex-Mann geschickt. Nach der Scheidung. Per Mail. Blaue Fischskelette mit Leuchtantennen in einem metallischen Meer. Mechanische Vögel. Conni heult jetzt ganz unverhohlen. Kostbare Minerale werden durch ihre Augen in die Welt gespült. Die nicht darum gebeten hat. Jeder kann seine Minerale bitteschön für sich behalten. Conni klickt. Radiohead. But I’m a creep. I’m a weirdo. I don’t belong here. Conni jault mit. Die Gitarre kratzt. I wish I was special. Conni ist special. Very special. Redet sie sich ein. Da hat sie was, woran sie glauben kann. Wenn sonst schon nichts. A heart that’s full up like a landfill. Bruises that won’t heal. This is my final fit. No alarms and no surprises. Silent. Silent. Conni schluckt. Conni schleckt. Die Tabletten hat sie lange gesammelt. Ihr Arzt hatte sie darauf gebracht. Mit einem Lächeln hatte er gefragt, ob sie schon gesammelt hat. Psychotrick. Guter Tipp. No alarms and no surprises. Silent.
Bildquelle: (c) DA