Von Jana Nicola Sadelkow.
Verstohlen blickt Ruben sich um, peinlich darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben. Er dreht den Schlüssel zweimal im Schloss und betritt das Gebäude, wie gewohnt, durch den Nebeneingang. Allmählich werden die Tage jetzt länger und der Schutz der Dunkelheit löst sich auf.
Er setzt sich auf einen Hocker und nimmt den halben Pullover in die Hand.
„Nicht loslassen.“
Loslassen kann er nicht.
Er mag es, wie sich die Maschen auflösen, bewegt die Hände im Wechsel vor und zurück, um ein wenig nachzuhelfen. All die kleinen Schlaufen, die nach und nach wieder einen Faden bilden, der länger und länger wird. Sie wickelt: Das rote Knäuel in ihren Händen wird dicker und dicker, bereit für etwas Neues und dann wird es sein, als hätte es das Alte nie gegeben. Alle Spuren verwischt. Ein richtiger Recycling-Freak ist sie, seine Melli.
Nicht, dass er sich etwas hätte zuschulden kommen lassen. Jedenfalls nicht mehr als andere auch. Es ist etwas anderes, das ihn veranlasst, die Schultern zu heben und die Mütze tiefer über die Stirn zu ziehen, wenn er den Weg zur Friedhofskapelle nimmt. Der Wunsch, allein und ungestört zu sein.
Hätte man ihn vor sechs Monaten gefragt, wie er sich seine Zukunft vorstellt, so wäre er nie auf die Idee gekommen, heute hier zu stehen. Alles wird wieder besser, alles wird wieder besser – gebetsmühlenartig muss er es sich immer und immer wieder sagen.
„Soll ich eine bunte Mütze stricken, hm, oder ganz in Rot, was meinst du?“
Er zieht Anorak und Mütze aus und wirft sie achtlos auf die gestapelten Stühle. Es ist still, nur die Kühlanlage im Nebenraum surrt leise. Er hört sie nur, wenn er in dem kleinen Flur steht. Abrupt wendet er sich nach rechts und betritt den Abstellraum, holt den Staubsauger, sowie den Wagen mit den Putzutensilien hervor, schließt behutsam die Tür hinter sich und beginnt mit dem Saugen der Böden im Saal: Beinahe wie ein Tinnitus, der hohe Ton, neben dem Brummen und Rauschen der aufgenommenen und entweichenden Luft. Es riecht nach Staub und verwesenden Pflanzen. Später sollte ich den Beutel wechseln, denkt er.
„Fertig!“ Sie legt die Wolle in den großen Weidenkorb, zu all den anderen bunten Knäueln. Ein fragendes Lächeln in seine Richtung.
„Blutrot ist eher eine Mädchenfarbe“, sagt er. „Vielleicht besser was Beiges?“
Teppiche gibt es hier nicht viele, nur diese braun-beigen Läufer, die ein bisschen von der Kälte der schwarzen Fliesen schlucken. Früher sind ihm die Dinger egal gewesen, aber jetzt, wo er sie reinigen muss, fällt ihm auf, dass sie grässlich aussehen und flusig – verblichener Charme der Siebziger. Der Dreck in ihnen lässt sich nie vollständig entfernen. Wozu auch? Alles ist dunkel und trostlos hier. Nur die buchenfurnierten Stühle und das Holzkreuz hellen den Raum ein wenig auf. Dienstags und donnerstags Beerdigungen. Heute ist Freitag.
Das Meer von Blumen, mit dem man stets versucht, dem Tod Farbe und Würde zu geben und dem Gestank beginnender Verwesung vorzubeugen.
Mellis Grab. Der Duft von Rosen und Nelken, aufgerissene, feuchte Erde, der Geschmack von salzigen Tränen auf Lippen und Gaumen. Schluchzen.
Die Läufer sind zerschlissen, er fährt und saugt heftig darüber hinweg, immer heftiger, zieht Fäden an den Rändern.
Der rote Faden. Blut rinnt die Windschutzscheibe hinab. Melli am Steuer, überm Lenkrad zusammengesackt.
Tragischer Unfall auf der A45: Vierundzwanzigjährige Schwangere stirbt nach Kollision mit einem anderen Fahrzeug.
NEIN! NEIN! NEIN!
Er drückt auf den Knopf. Jetzt ist es still, totenstill. Alleine, gottverlassen. Lediglich die Schatten der hohen Bäume sind vor der Fensterfront zu sehen.
Schnell noch putzen, nicht zu viel nachdenken …
Eigentlich ist es Melanies Job, neben dem Studium hat sie hier als Reinigungskraft gearbeitet.
„Nicht loslassen.“ Melanies bezauberndes Lächeln. Zärtlich fährt seine Hand über den Babybauch.
Hier hat er das Gefühl, ihr nahe zu sein, stellt sich vor, wie sie mit Stöpseln im Ohr über die dunklen Fliesen tanzt, putzt und vergnügt dabei singt:
„Clap along if you feel like happiness is the truth“
Die Musik ist erloschen. Andere Liedverse in seinem Kopf:
„Dancing, with tears in my eyes.“
„I can‘t live, if living is without you.“
„I miss you like crazy.“
Er schaltet den Dampfreiniger ein. Leicht gleitet das Gerät über den dunklen Boden und benetzt die Fliesen mit einem dünnen Wasserfilm.
„Nicht loslassen.“
Nein, ich lasse nicht los, denn ich habe wahnsinnige Angst, dich zu verlieren, zu vergessen, wie du bist.
Was klemmt da zwischen zwei Stühlen, in einer der hinteren Reihen? Neugierig ergreift er das Stück Papier. Ein Programmheft für eine Beerdigungsfeier: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“ (Offenbarung 21,4). Ein Bibelvers. Ruben ist nicht religiös. Aber irgendwie tut es ihm gut, diese Worte zu lesen und die Möglichkeit zu erwägen, dass da jemand ist, der ihm helfen wird.
Wie viele salzige Tränen wischt er jede Woche von diesem Boden auf? Wenn man den Kummer und die Klagen einfach wegputzen könnte und die Menschen von hier aus geläutert und frei ins Leben zurückkehrten.
Du MUSST loslassen.
Er betritt den Flur und räumt die Putzutensilien zurück in die Kammer.
Frederic gibt ein gurrendes Geräusch von sich und räkelt sich schläfrig in seinem Kinderwagen, so dass das rote Strickmützchen ein wenig verrutscht. Er öffnet die blauen Augen und lächelt.
Zum ersten Mal wird Ruben die große Ähnlichkeit bewusst. „Na, kleiner Mann? Pünktlich erwacht?“ Er hebt seinen Sohn aus dem Wagen und wiegt ihn zärtlich in seinen Armen. Dabei beginnt er leise zu summen. Ganz spontan bewegt sich sein Körper im Rhythmus der Melodie.
Das Baby lacht.
Für einen Augenblick ist ihm, als sähe Melanie ihn an:
„Den roten Faden. Den roten Faden nicht loslassen!“
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