Von Martin Grünendieck.
4813 schaltete die Realitätsbrille aus. So sah die Welt also wirklich aus. Statt der einheitlichen, strukturierten Wohneinheiten sah die Agentin von UNS die heruntergekommenen Häuser am Rande der Stadt, alt und grau, vom Verfall gekennzeichnet. Sie war froh, dass die Brille diese normalerweise verbarg.
Im blauen Licht der Monde konnte sie das Geschäft sehen. Das große Fenster in der grauen Hausfassade war fast undurchsichtig vor Schmutz, die Beschriftung längst verblasst. Ihre Aufgabe war es, solche Schandflecke aufzuspüren und zu vernichten.
aus wenigen werden viele wird ein wir eine einheit nicht störende vielfalt alternativen bedeuten auswahl zeitverlust unsicherheit sind angst brauchen schutz durch das wir das uns durch UNS
Das Klingeln beim Öffnen der Tür irritierte sie, nirgends konnte sie einen Lautsprecher entdecken. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel des Raums. Als sie ein Knarzen unter ihren Füßen hörte, ließ der antrainierte Reflex sie erstarren. Nein, es ist nur der Boden aus Holz, der das Geräusch macht.
Ihr Blick glitt durch den Laden. Durch die blinden Scheiben drang nur wenig Licht in das Geschäft. Es war anders, fremd, alt. Ihre -2F, die sie Oma hatte nennen sollen, hatte hier schon als Kind immer eingekauft. Das war noch in Zeiten vor UNS, als die Menschen noch viele Ressourcen verschwendeten: Zeit, Energie, Wasser. In ihrer Agentenausbildung hatte 4813 von diesen Übeln gehört. Damals wurden die Menschen auch noch mit langen Buchstabenkombinationen bezeichnet, die sich ihre Produzenten frei ausdachten. Sie warf einen Blick auf ihr linkes Handgelenk, in dem unter ihrer eintätowierten vollständigen Nummer, 5877 4559 4813, ihr persönlicher Chip eingepflanzt war.
was tun die nur hier im verseuchten raum den sie heimat nennen und glauben ein recht auf mehr zu haben als alle anderen die nicht den zementierten rahmen der enggeistigen entspringen sich auf nichts als ihren genpool berufende arroganz von geistiger weite unberührt daliegend
4813 schaute sich in dem Geschäft um. Es gab keine Auswahlscreens, keine elektronischen Warenkörbe. In den Holzregalen stapelten sie Dosen, Gläser und Pakete mit seltsamen Bezeichnungen. Von ihrer -2F wusste sie, dass es sich um Lebensmittel handeln sollte. Unterhalb des Fensters standen mehrere Körbe mit ungleichmäßig geformten farbigen Sachen.
„Hallo, was kann ich für dich tun?“
Die Stimme ließ sie herumfahren. In der Ecke, hinter einem langen, tischähnlichen Gebilde, stand ein – ja tatsächlich – ein Mensch. Deutlich genetisch mangelhaft, hellhäutig, etwas, was heute sicherlich nicht mehr durch die Qualitätskontrolle kommen würde. Sie wunderte sich sowie so, warum noch so viele von diesen Rassen hier lebten. Die Frau lächelte sie an. Sie trug keine Brille, aber Kleidung, wie 4813 sie aus dem Museum kannte, ausgestellt als Beispiel für die schlechte alte Zeit.
4813 hatte sich vorbereitet und eine Liste von Sachen erstellt, die ihre -2F immer gekauft hatte. Mit einem „Liste -2F“ rief sie diese auf den Bildschirm ihrer Brille.
„Ich soll hier Sachen für -2F holen. Ich lese Ihnen die Spezifikationen vor.“
„Bist du nicht die Enkelin von Juliane?“
Sie sah die Frau an. Was war eine Juliane?
„Die Enkelin von, ach wie war noch die Nummer, 5387?“
Das kannte sie. 5387 war ihre -2F.
„Ja, ich bin ihre +F2F1. Ich soll Möhren, einen Salat und Bro, Brok-ko-li, mitbringen.“ Sie kannte die Namen der komischen Sachen, die -2F oft als Nahrung zubereitete hatte, nicht.
interaktionslose räume in statischen dimensionen zementieren die furcht der jahrhunderte vor wandel als wandel als wandel als stetiges prinzip der entwicklung der stillstand als gefahr ist rückschritt ohne bewegung nur die bewegung ist die wahre ruhe die wahre statik die wahrheit
„Ja, das habe ich alles frisch da.“ Die Frau ging zu einer Reihe von Kisten. „Komm ruhig näher und guck dir das Gemüse an.“
Langsam trat 4813 näher. In den Kisten lagen rohe Lebensmittel, einfach so, ohne Verpackung und teilweise mit Resten von Erde. In der Schule hatte sie gelernt, die Menschen hätten ihre Nahrung früher in der Erde, also im Boden angebaut. Ihr schauderte bei dem Gedanken, den knappen sauberen Boden für so etwas zu nutzen.
Die alte Frau hielt ihr rötliche Stängel unter die Nase. „Hier, riechst Du? So riechen richtige Möhren. Nicht so steril geschmacklos wie das verordnete Standardessen, das ihr immer aufgetischt bekommt.“
4813 war erstaunt. Unangenehm war der Geruch nicht, sondern würzig süßlich.
„Und ich habe gerade frische Tomaten bekommen.“ Jetzt hielt ihr die Frau zwei rote Kugeln vor das Gesicht. Der herb-säuerliche Geruch erinnerte sie an ihre -2F.
„Davon hätte ich auch gerne vier Stück.“ 4813 war von sich selbst überrascht.
Erst als sie das gesagt hatte, wurde ihr wieder bewusst, dass sie hier als Agentin von UNS war. Sie sollte solche alten und inzwischen illegalen Läden aufspüren.
der fortbestand des großen UNS ist das ziel von allem was zum großen UNS gehört zu dem einzigen reinen UNS unverschmutzt durch andere gradlinig zum wohl aller akzeptiert es das andere als notwendiges übel reduziert auf ein mittel zur überhöhung des UNS in einer geschichtslosen gesellschaft ohne lernbereitschaft
Nachdem sie mit ihrem eingepflanzten Chip bezahlt hatte, schaute 4813 sich noch einmal im Laden um. Dann fiel die Ladentür mit einem Klingeln hinter ihr zu. Sie warf einen Blick zurück auf das alte Haus mit den seit langem blinden Scheiben. Es war tatsächlich ein altertümlicher Ort, ein Ort, der sich der Entwicklung entgegenstemmte. Ein Treffpunkt von Freigeistern, von Kreaturen, die sich gegen das Notwendige sträubten.
Sie blickte die Straße hoch. Die beiden Fahrzeuge des Einsatzkommandos von UNS konnte sie gerade noch ausmachen, bevor sie ihre Realitätsbrille wieder einschaltete und wie alle Menschen nur das sah, was ihrer Entwicklung zuträglich war.
aufgabe aller ist die reinigung der gesellschaft von unwerten von blockierenden auf dem wandelweg zum großen UNS was zurückbleibt muss weg keiner wird zurück gelassen blockiert die gesellschaft muss ausgerissen werden mit wurzeln radikal für UNS
In ihrem Kommunikator hörte sie die Frage.
Sie zögerte einen Moment. Ihre -2F war gestern gestorben.
Während die Fahrzeuge des mit Androiden besetze Säuberungskommandos an ihr vorbei glitten, ging 4813 in Richtung ihrer Wohneinheit. In der Hand hielt sie die Tüte mit dem Gemüse, in ihrer Nase hatte sie immer noch den Duft der Möhren und Tomaten. In ihrem Herzen hatte sie ein unbekanntes Gefühl.
„Nein, inkorrekte Information. Kein Eingriff notwendig.“
Bildquelle: (c) DA