Novelle

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Wiener Geflecht

Von Almut Tina Schmidt.

Im Vorraum standen acht Stühle, „Sessel“ sagen sie hier, acht alte Sessel mit durchhängender Sitzfläche, ausgeleiertes, teils schon gerissenes Rattangeflecht.

„Ich muss sie reparieren lassen“, sagte Florian. „Gehen wir lieber in ein Kaffeehaus.“

Damit meinte er allerdings nicht irgendein Kaffeehaus. An mehreren Lokalen gingen wir vorbei, schauten in einige sogar hinein – „das sieht doch nett aus“, sagte ich vor einem Café voll junger Leute auf Sitzmöbeln unterschiedlichster Farbe, Form und Größe. Doch Florian schüttelte den Kopf: „Alles nur deutsche Studenten.“

Schließlich fuhren wir zu einem plüschigen Café im sechsten Bezirk – dem Lieblingslokal des Rundfunkintendanten, Regisseurs, Romanautors und Rugbyschiedsrichters Josef Jurtschitsch, wie Florian erwähnte. Jurtschitsch war nicht anwesend, dafür aber Karin Blaha, Fotografin und Modedesignerin und Freundin des Kultsoziologen und oscarnominierten Kurzfilmers Paul Pelinka, der einmal auch am Eurovision Song Contest teilgenommen hatte – Florian kannte sich aus. Ich fand das sehr interessant.

Aber Florian war nicht zufrieden. Er wollte schon wieder gehen – „vielleicht doch ins Kuppitsch, das ist so out, dass es allmählich wieder in sein müsste“ –, als Paul Pelinka persönlich hereinkam. Mit ihm der Drehbuchautor, Comiczeichner und ehemalige Priester Kurt Kohut. „Und siehst du den?“, flüsterte Florian. „Das ist der Komponist und Heurigenwirt Walter Leitner – in Österreich weltberühmt. Neben ihm Elfriede Gebetsroither, Pressereferentin der Staatsoper, geschieden vom ältesten der vier Sedlacek-Brüder. Oh, und da kommt Alfred Fischer, der große alte Herr der Bankenaufsicht, nebenbei Seniorenlandesmeister im Tischtennis und Vorsitzender des Antidopingverbands wie auch des Hofreitschulfördervereins. Seine Lebensgefährtin übrigens ist die Ex-Chefin meines Steuerberaters, der wiederum der Cousin der Frau des derzeit amtierenden Bundeskanzlers ist, dessen Name mir jetzt seltsamerweise nicht einfällt; aber seine Frau war früher mit Kurt Kohut verheiratet – da beißt sich die Katze wieder in den Schwanz. Oh, und da: Attila Vestititsch, Vorstand der Filmförderung und Interimsdirektor der ,Angewandten’ und seine deutsche Frau. Und der Eventproduzent Tassilo Verzetnitsch aus der berühmten Immobilienmaklerfamilie, „Realitätenhandel“ sagt man hier, mit dem Übergrößenmodel Anna Hundertwasser, Muse des Dramatikers Nino Narcosi, und der Kabarettistin Moni Müller, Moderatorin des letzten Protest-Song-Contests!“ Und Florian mittendrin. Ab und zu nickte und winkte er einzelnen Schlüsselfiguren des öffentlichen österreichischen Lebens zu, und sie winkten und lächelten zurück, irgend jemand kam auch zu unserem Tischchen, tätschelte Florians Schulter und sagte: „Meld dich mal, ja?“

Die nächsten Male trafen wir uns gleich im Kaffeehaus. Wir sahen der Aktionistenwitwe und Alkoholikerin Elfriede Janesch beim Trinken mit dem Architekten und Thomas-Bernhard-Fan Armin Marktl zu und beobachteten einen Lobbyisten, dessen Name sogar mir ein Begriff war, beim Trinkgeldgeben. Am Nebentisch unterhielten sich Attila Vestititsch, Kurt Kohut, Walter Leitner und der Burgschauspieler Joachim Giggl darüber, wie sich Nino Narcosi mit Förderstipendien, Vorschüssen und diskreter Anteilnahme hinreichend stabilisieren ließe, dass irgendwann auch wieder ein Theaterstück von ihm zu erwarten sei – Nino Narcosi, so klärte mich Florian auf, tue sich schwer: „er schreibt nur Dramen, macht überhaupt nichts anderes, geht nicht aus, man sieht ihn nie unter Leuten, und dennoch kommt nur alle vier bis fünf Jahre ein Stück dabei heraus; woanders hätte man so jemanden längst fallen gelassen.“

War weniger los, gingen wir weiter ins Kuppitsch oder noch weiter: überall erkannte Florian auf den ersten Blick, ob sich in den Lokalen irgend jemand Interessantes befand.

Erst gegen Ende meiner Zeit in Wien lud er mich wieder in seine Wohnung ein, zu einer Party – einer Stehparty. Zwar gab es jede Menge Stühle im Vorraum und noch mehr im Wohnzimmer, doch die meisten Sitzflächen befanden sich in Stadien fortgeschrittenen Verfalls, was auch die Kissen, „Polster“ sagt man hier, die Florian auf das geborstene Flechtwerk gelegt hatte, kaum kaschieren konnten.

„Ich hatte sie rechtzeitig reparieren wollen“, erklärte Florian, „aber ich habe immer noch keinen Handwerker gefunden, der das zu einem akzeptablen Preis erledigt.“

„Deswegen bekommt man solche Sessel auch so billig. Das sind keine Antiquitäten, das ist Mist“, sagte Peter Schröcksnagl, Museumsdirektor und Punkrocker und mitten in den Planungen zu einem Projekt mit seinem Onkel Josef Jurtschitsch, dem Landschaftsgärtner, TV-Dadaisten und Masochisten Klemens Kohut und allen vier Sedlacek-Brüdern. Seine Freundin gab sich bescheiden, sie beteuerte, „einfach nur Schauspielerin“ zu sein, obwohl sich im Lauf der Zeit herausstellte, dass sie zuweilen die enfants terribles der oberösterreichischen Volksmusik, die Vokalbruitistinnen Amina und Barbara Brunner, um eine dritte Stimme ergänzte und nebenbei Tageszeitungskolumnistin und Patenkind von Alfred Fischer war.

Mein Vertriebspraktikum in einem mittelständischen Importunternehmen, spezialisiert auf Haushaltsgeräte, kam mir vergleichsweise langweilig vor, „fad“ sagt man hier. Aber immerhin lag die kleine Wohnung, in der ich untergekommen war, direkt über der Werbeagentur, deren Besitzerin, die in Theologie promovierte ehemalige Lottofee und Ex-Frau Paul Pelinkas, in ihrem Keller mehrere Bekannte – darunter den jüngsten Sedlacekbruder – unter Drogeneinfluss einzumauern versucht hatte; mit dieser in allen Medien präsenten Geschichte konnte ich immerhin ein gewisses Interesse erregen.

Ich lernte den Körperspracheguru, Bildhauer und Dozenten an der Universität für Bodenkultur Ingo Wesel aus Bremen kennen – „der hat die Gesellschaft hier noch besser begriffen als ich“, raunte Florian mir zu –, und Florians Steuerberater mit den prominenten Beziehungen, der mir erzählte, dass er eigentlich Molekularbiologe sei, in seiner Freizeit Achttausender besteige und vor vielen Jahren einmal am Vorentscheid zum Eurovision Song Contest teilgenommen habe. Die Anwesenheit von Schröcksnagl schien ihn, im Gegensatz zu unserem Gastgeber, der darüber ganz aus dem Häuschen war, wenig zu beeindrucken; diskret wies er mich darauf hin, dass sich schließlich noch andere interessante Leute im Raum befänden: immerhin handelte es sich bei dem Mann, den Korinna, die Tochter von Walter Leitner, Psychologiestudentin und Poetry-Slammerin, mitgebracht hatte und der die Umstehenden schon seit einer Stunde mit dem versehentlich in seine Umhängetasche geratenen Spielzeug seiner zweieinhalbjährigen Zwillinge unterhielt, um niemand anderen als um den Hotelerben und Prominentenanwalt Anton Köhler. Und der Skirennläufer Norbert Ostermayr, der zusammen mit Clarissa Gross, Ärztin, Choreographin und Nichte von Kurt und Klemens Kohut, gekommen war, sei immerhin Eurovision Song Contest-Teilnehmer. Ostermayr übrigens war einer der wenigen, die sich bedenkenlos auf einen Stuhl gesetzt hatten, und er war der erste, der durchbrach, was Schröcksnagl dazu brachte, laut aufzulachen: „Gemütlich hier!“

Danach war kaum jemand zu halten; selbst Florian, der gerade noch neues Bier hatte besorgen wollen, wurde mitgerissen, weiter, zur nächsten Party; Korinna Leitner wusste, wo Joachim Giggls Dernierenfeier stattfinden sollte, und alle schlossen sich an. Nur ich hatte genug. Die letzten Wochen meines Praktikums waren anstrengend gewesen; obwohl ich nebenbei weder ein Plattenlabel gegründet, noch eine Hauptabendserie konzipiert hatte. Dennoch rief mir Peter Schröcksnagl zum Abschied zu: „Meld dich mal!“ Auch Florian sagte: „Melde dich!“

Doch als ich ihn tatsächlich einmal anrief, war Florian schwer zu verstehen vor lauter Kaffeehausgeräuschen im Hintergrund; und ehrlich gesagt fand ich außerhalb von Österreich seine Erzählungen kaum noch interessant.

Eine Weile hörte ich gar nichts mehr von Florian. Erst als ich das nächste Mal nach Wien kam, versuchte ich es wieder bei ihm. Doch er hatte inzwischen offensichtlich eine neue Handynummer. Zu Hause schien er nie zu sein, „Mag. Deutschmann“ stand noch an der Klingel, aber in seiner Wohnung standen anscheinend nur mehr seine Stühle. Ich hatte es bereits aufgegeben, ihn erreichen zu wollen, als ich in einer Kneipe, „Beisl“ sagen sie hier, zufällig Clarissa Gross begegnete. Nachdem ich ihr erklärt hatte, woher wir uns kannten, erinnerte sie sich auch an Florian: „Das ist aber nicht dieser legendäre Autogrammjäger mit seinem irren Opernführerprojekt, oder?“ Im Hintergrund wurde der Eurovision Song Contest übertragen, doch niemand sah hin. Clarissa Gross riet mir, mich an Anton Köhler zu wenden – „weißt du, Anton, der Ex-Mann von Amina Brunner. Grüß ihn von mir.“

Als Anwalt kannte Anton Köhler sich mit Stalkern aus; umso weniger konnte er sich an den diskreten Florian erinnern. Mir fiel es schwer zu erklären, worin die Faszination lag, die Florian getrieben hatte – am allerwenigsten seinen Forschungsgegenständen selbst. Aus Verlegenheit schickte Köhler mich zu einer Klassenkameradin, „Schulkollegin“ sagt man hier, von Karin Blaha, die zunächst von ihren Projekten mit Moni Müller erzählte und erst nach einer Weile fragte, ob Florian nicht gemeinsam mit Joachim Giggl auf der Schauspielschule gewesen sei – nicht dass ich wüsste, aber ich hatte auch nicht gewusst, dass Florian einmal zusammen mit Armin Marktl bei der Viennale gearbeitet hatte, wie Giggl behauptete.

Armin Marktl, den ich mit seinem Schulkollegen Peter Schröcksnagl im Kaffeehaus traf, gab mir – offensichtlich weil ihm nichts anderes einfiel – die Nummer von Attila Vestititschs Frau. Die schwankte ratlos zwischen der deutschen und der österreichischen Form von Höflichkeit, relativierte also ihr entschiedenes Desinteresse an Florian und an mir immer wieder durch vage Hoffnungsfloskeln und drückte mir schließlich eine Adresse in die Hand. Leider war es nur die ihrer Fußpflegerin; die zufälligerweise allerdings die Kusine von Moni Müller kannte.

Moni hörte geduldig zu, ihre Kommentare machten mir Mut – bis sich herausstellte, dass sie Florian nie wirklich wahrgenommen, sondern ihn mit dem Sohn des Bundeskanzlers, der wiederum mir bisher nirgends aufgefallen war, verwechselt hatte. Immerhin begleitete sie mich in das Kaffeehaus, in dem der junge Mann sich bevorzugt aufhielt.

Dort trafen wir jedoch nur Elfriede Janesch und Korinna Leitner, die gerade erzählte, wie Tassilo Verzetnitsch endlich zugegeben habe, dass Nino Narcosi samt seiner Stücke aus seiner Produktion stamme. Korinna riet mir dazu, Reinhart Schwarzeneder zu kontaktieren, Salonstalinist und Konditor und Mann von Barbara Brunner: „Du kannst dich auf mich berufen, dann geht da sicher was.“

Und es ging tatsächlich etwas: in Richtung Barbara Jurtschitsch, der Historikerin und Krimiautorin und Initiatorin des Investitionsvolksbegehrens und Schwester von Josef, die sich an Florian allerdings nur sehr vage erinnern konnte: „War das nicht dieser kürbiszüchtende Südostasien-Experte, der gemeinsam mit Kurt Kohut das Sleep-In in der Sauna veranstaltet hat?“ Schließlich riet sie mir, mich an Paul Pelinka zu wenden.

Stattdessen traf ich zufällig Ingo Wesel, der gemeinsam mit Anna Hundertwasser unterwegs zu Elfriede Gebetsroither war. Er erinnerte sich sofort an Florian: „Natürlich – das war diese Rattan-Frage. Ja, Florian, der sucht doch jemanden, der ihm seine Sessel billig repariert. Ich kenn da jemanden, den Kasimir – also, der kennt sicher jemanden.“

Als ich ihn verständnislos ansah, erklärte er: „Ja, Kasimir Kayser, die Gallionsfigur des ,Neuen Heimwerkens‘ – nebenbei auch Assistent von Peter Schröcksnagl und übrigens der Großneffe von Kardinal Kayser. Wenn sich einer auskennt, dann er. Grüß ihn schön von mir; der kann dir sicher weiterhelfen.“

So verlor sich diese Spur.

Und als ich Florian zwei Tage später im Kaffeehaus traf, wo er von seinem Kitzbühel-Urlaub schwärmte, wusste ich nicht mehr, warum ich ihn eigentlich gesucht hatte.

Bildquelle: (c) DA

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