Von Susanne Hartmann.
Angespannt hockte Hannes auf der Kante seines Stuhles. Auf der anderen Seite des Schreibtisches saß Frau Professor Gropius. Sie lugte hinter ihrer Brille hervor, wobei sie einen Bügel mit spitzen Fingern anfasste: „So, so, Dr. Stierlin, Sie möchten die Stelle als Assistent für besondere Aufgaben übernehmen.“ Ihre Kurzhaarfrisur sah aus, als hätte sie, statt einen Föhn zu benutzen, ihren Kopf in eine Windböe gehalten. Während sie ihn taxierte, ließen ihre mausgrauen Augen keinerlei Gemütsbewegung erkennen. „Na dann schießen Sie mal los!“
Hannes räusperte sich und überlegte, ob sein Äußeres Sympathie erweckte. Seine fuchsbraunen Haare passten gut zu den blauen Augen. Freilich hätte er ein bisschen abnehmen können. Seine Ex fand, er sei ein wenig dicklich. Er fragte sich, wie viele Mitbewerber wohl um seinen Posten stritten. Es musste einfach klappen. Er leierte seinen Werdegang herunter. Ein paar Kurzfragen der Bebrillten beantwortete er ebenso knapp.
Daraufhin folgte eine Tour durch das Institut für genetische Innovationen, die einzige Einrichtung, die ihn zu einem Vorstellungstermin eingeladen hatte. Madame Gropius rauschte an den Pflanzen vorbei, mit ihrem Gast im Schlepptau, als gelte es in See zu stechen. Sobald ein Angestellter zu sehen war, schmetterte sie dessen Namen hinaus. Ohne Hannes Zeit zu lassen, jemandem die Hand zu schütteln. Sie sausten durch die Villa und die Gewächshäuser, um letztlich wieder in dem Raum zu landen, wo ihr Gespräch begonnen hatte. Dort knallte sie ihm den Vertrag auf die Tischplatte und ließ ihn unterzeichnen. Hannes kratzte sich am Kopf, noch völlig konfus von der atemberaubenden Fahrt, die seine Karriere aufgenommen hatte. „Morgen fahren Sie zu ihrer alten Wohnung und lösen Sie auf.“
„Morgen schon?“
„Heute beziehen Sie bei uns Quartier. Fällt alles unter Vertragsbedingungen.“
Hannes klappte den Unterkiefer auf und zu. Er fühlte sich außerstande, zuzugeben, dass es ihm in diesem Eiltempo nicht gelungen war, die Vertragsklauseln in allen Einzelheiten durchzulesen.
Ein Diener brachte Hannes in sein Zimmer im Obergeschoß. Zu seiner Verblüffung entpuppte es sich als Suite, wie in einem Fünf-Sterne-Hotel. An die zwanzig Angestellten hörten auf das Kommando von Madame Gropius. Einige besorgten den Haushalt des Anwesens. Andere bewirtschafteten den Park. Und Wissenschaftler wie er werkelten vor Ort.
Madame Gropius wies Hannes an, eine neue Gattung Orchideen zu überwachen. Gerade als er seinen ersten Arbeitstag antrat, durchbrachen ihre Pflanzenspitzen das Erdreich. Daraus sollte das Elixier gewonnen werden. Fieberhaft suchte man nach der Formel, es dahingehend zu verbessern, dass seine Wirkkraft nicht schon nach drei Tagen verpuffte. Worin dieser Effekt bestand, erfuhr Hannes nicht. Fragte er danach, hieß es bloß, darum habe er sich nicht zu kümmern und er solle es erfahren, sobald die Zeit dafür reif sei. Hannes wollte sich in Geduld üben. Es gefiel ihm, endlich als Wissenschaftler zu arbeiten und es lebte sich angenehm in der Villa mit dem Riesengarten. Die Zimmer strotzten von luxuriösem Ambiente. Die Verpflegung bestand aus erstklassigen Zutaten. Er war gespannt, was es mit der Orchideenart auf sich hatte. So pionierhaft war sie, dass sie noch nicht einmal einen Namen besaß.
Wie Madame Gropius durch die Gänge und über die Pfade des Anwesens flitzte, wusste man nie, wo sie gleich auftauchen würde. Mal stand sie urplötzlich in der Halle, dann in Komplex A der Gärtnerei, um bald darauf in einem der Forschungslabors aufzukreuzen, wo sie ihren Wissenschaftlern auf die Finger schaute. Sie schien ihre Glieder, die dem Gespreizten einer Gottesanbeterin nicht unähnlich waren, wie aus dem Nichts neben einem auffahren zu können. Manche von Hannes Kollegen mutmaßten, sie könne nicht nur Pflanzengene manipulieren.
Schon nach ein paar Tagen war die Orchidee so groß wie eine Schreibtischlampe. Sie verströmte einen überwältigenden Duft nach Vanille. Ihre Blüten leuchteten in Karmesinrot, Violett und Hyazinthblau. Jeden Abend vor dem ins Bett gehen bewunderte Hannes ihre Batikmuster. Zuweilen streichelte er ihre Blütenkelche, bevor er das Gewächshaus verließ.
Eines Abends bemerkte er, dass er sein Gourmetschinkenschnittchen nicht aufgegessen hatte. Es harrte in seiner Hand, seit er den Speiseraum verlassen hatte, bis es an seinen Fingern zu kleben begann. Genüsslich vergrub er die Zähne darin und begann zu kauen. Ein leises Schmatzen war zu vernehmen. Es kam nicht aus seinem Mund. Er blickte um sich. Aber niemand war zu sehen. Hannes zuckte die Achseln und biss noch einmal in sein Schnittchen. Ein schlürfendes Geräusch begleitete das Mahlen seiner Kiefer. Hungrig wie er war, setzte er seine Mahlzeit fort. Es war ihm, als würde das Pflänzchen ihn beobachten. Er fragte sich, womit es dies tat. Durchlief das Orchideengewächs nicht ein kaum merkbares Zittern? Sanft strich er ihm über die Blütenblätter. Da, es schmatzte wieder. Einer Eingebung folgend, nahm er ein Stück Schinken und legte es auf den Kelch. Es rutschte hinein, wobei aus der Blüte erneut ein Schlürfen an sein Ohr drang. War das möglich? Eine Orchidee als fleischfressende Pflanze? Als Antwort ertönte ein lautstarkes Rülpsen und machte ihm klar, dass seine Gedankengänge einer logischen Richtung folgten.
Als er seinen Kollegen Dr. James Matthews, eine Kapazität aus den USA, danach fragte, raunte dieser ihm zu: „Tu nicht sprechen darüber. Das ist die großglockige Orchideenart, die kaum ein Mensch zuvor gesichtet hat.“
„Gesichtet?“
Hannes musste sich erst an seine Ausdrucksweise gewöhnen. Mit seiner hageren Statur und der Naturtonsur wirkte er wie ein Bibliothekar aus einem anderen Jahrhundert, den die Welt vergessen hat und der still mit seinen Büchern verstaubte. „Ja“, verschwörerisch näherte er seinen Kopf, „Professor Gropius hat sie ganz extra in diesen Winkel verpflanzt. Nur wir beide und sie haben Zugang. Okay?“
Hannes fragte sich, wie er neben James Matthews bestehen konnte. Einem Wissenschaftler, der schon fünf Bücher und zahllose Artikel veröffentlicht hatte. Hannes war der einzige Wissenschaftler Im Institut, der keine Publikationsliste vorzuweisen hatte.
Nach drei Wochen gab Madame Gropius ein Dinner, zu dem Gäste von außerhalb eingeladen wurden. Alles handverlesene Leute, die Frau Professor Gropius unter ihre Fittiche versammelte. Sie kamen aus der Wissenschaft, der Politik, der Kunst und der Industrie. Alle hatten steile Karrieren hinter sich. Ganz anders als Hannes. Warum hatte Frau Gropius ausgerechnet ihn auserkoren, ihre Lieblingspflanze zu umhegen? Was waren das für Gesichtspunkte? Sie musste weitere, ihm unbekannte Kriterien führen, um ihre Mitarbeiter auszuwählen. Worin nur bestanden diese Kriterien?
Auf der Party erfuhr er, dass Frau Professor Gropius einer traditionsverbundenen Bürgerfamilie entstammte und nachdem ihr Gatte verstorben war, sie alleine das Institut führte. Es war ihr jüngst geglückt, Forschungsgelder in nie dagewesenem Umfang einzustreichen. Beziehungen in die Großmannswelt hatten sich dabei als äußerst hilfreich erwiesen. James erzählte ihm von Professor Prekarius, der an dem Elixier getüftelt hatte, aber inmitten seiner Arbeit aus dem Leben gerissen wurde. Auch James rätselte über die Ursache seines Todes, da nichts darüber verlautbar wurde. Über alles herrschte strenge Geheimhaltung. Keiner durfte wissen, was das für ein Elixier war, das Madame Gropius herstellen wollte. Obwohl sie bereits die 70 überschritten hatte, zeugten lediglich zwei, drei weiße Strähnen von ihrem Alter, ansonsten hatte sie sich straff gehalten. Da machte die Gesichtshaut keine Ausnahme.
Am folgenden Tag rief sie Hannes in ihr Büro.
„Sie braucht eine spezielle Bezeichnung.“ Madame Gropius linste durch ihre Brille, deren Gläser ihre Augäpfel seltsam verkleinerten. „Eine besondere Kreation, entworfen von Professor Prekarius, Gott habe ihn selig.“
Hannes hob die Augenbrauen und erwiderte nichts.
„Leider ist er von uns gegangen, bevor er sein Geschöpf begutachten konnte.“ Ihre Stimme klang hart wie Stahl. „Nun ist es ihre Aufgabe aus der Neugattung weitere Geschöpfe zu ziehen, sobald sie reif ist für die Nektargewinnung.“
„Ehem“, er hüstelte, „Sie weist eine kuriose Eigenschaft auf.“
„Sie besitzt viele.“
„Es scheint, sie gehört zu den fleischfressenden Gattungen.“
Ihre Pupillen zogen sich zu winzigen Punkten zusammen. „Eine hervorragende Fähigkeit: nicht nur Nährstoffe aus dem Boden zu ziehen, sondern auch Nahrungsmitteln, sozusagen durch die Blumenglocke, aufzunehmen.“ Ihr Lachen hörte sich an wie ein Presslufthammer, so dass Hannes unwillkürlich zusammenfuhr.
„Der Verdienst von Professor Prekarius ist es – war es – über Standards hinaus zu denken. Die Kombination genetischer Anlagen, eingeschleust in ein Wesen, wie es niemand zuvor gesehen hat, schafft Möglichkeiten, von denen wir früher kaum zu träumen wagten. Eine Orchidee, die Speisen zu sich nimmt, können wir überdies als gesellschaftsfähig erachten.“ Ihr Lachen erschallte, dass Hannes meinte, er stehe neben einer Baustelle. „Merken Sie sich: nur drei Personen haben Zugang. Dr. Matthews, Sie und ich. Es fällt unter Top Secret.“
„Oh, sicher“
„Sie können sich mit Dr. Matthews kurz schließen und einen Namen finden.“ Damit war er entlassen.
Die Orchidee entfaltete weitere Duftnoten. Sie erinnerten an Zimt und Kakao. Die nächsten Wochen grübelten James und Hannes über die Namensgebung, während sie die Entwicklung ihres Sprösslings beobachteten. Zuerst probierten sie aus, wie das Orchideengeschöpf auf Kohlroulade reagierte. Da die Blumenglocken, inzwischen waren es drei, bereits die Größe eines Salatkopfes erreicht hatten, gab es kein Problem die Roulade hineinflutschen zu lassen. Nach zwei Stunden ging ein Ruck durch die Blüte und das Kohlblatt flog in hohem Bogen heraus. Die Pflanze schüttelte sich. Das nächste Mal verabreichten sie ihr argentinisches Rinderhüftsteak, was der Orchidee derart gut bekam, dass sie an einem Tag 30 Zentimeter wuchs. Mittlerweile hatte sie sieben Blüten hervorgebracht und war über drei Meter groß, so dass sie für die oberen Kelche eine Leiter brauchten. Nach fünf Wochen maß die Orchidee acht Meter und besaß den Umfang eines schlanken Baumes. Weitere Blüten brachte sie nicht hervor. Stattdessen waren die Kelche jetzt so groß, dass sie ganze Schweine, am liebsten roh, verspeisten. Dabei schaukelten sie hin und her, sobald sie das Fleisch rochen. Wenn Hannes sie fütterte, verschlangen sie größere Mengen als bei James. Darüber hinaus verstärkten sie ihre Duftnoten. Schließlich akzeptierten sie ihr Futter von James nur noch, wenn Hannes anwesend war. Lief er durch den Raum, drehte die Pflanze ihre Blüten nach ihm. Hannes freute sich und verwöhnte sie mit Musik, die er ihr jeden Mittag von seinem CD-Player vorspielte. Er gewöhnte sich an, jeden Abend vor dem Zubettgehen, leise zu ihr zu sprechen. Scherzte er mit ihr, schlenkerte sie ihre Blätter. Redete er von Seiner Ex wog sie sanft ihre Riesenkelche. Sprach er von Laborparametern, zitterte sie am ganzen Stiel. Deshalb schlug Hannes James vor, sie Ochidaceae Intellegenda oder Stierlinensis zu nennen. James plädierte mehr für Carnivorus Gigantum.
Bevor sie sich einigen konnten, schaute Frau Professor Gropius nach dem Rechten.
„Sie tut jetzt nicht mehr wachsen“, berichtete James, „seit vier Tagen können wir kein Längenwachstum mehr verzeichnen.“
„Aber sie frisst ordentlich, jeden Tag ein halbes Rind pro Kelch“, verkündete Hannes.
Ihre Haare standen beinahe senkrecht vom Kopf ab. Zum ersten Mal nahm sie ihre Brille ab, ließ ihren Blick in die Höhe schweifen bis zur obersten Spitze des grünen Riesen. „Dann ist sie bald soweit.“ Sie erteilte Anweisung, mit der Entnahme des Nektars und der endgültigen Namensgebung noch zu warten.
Ein paar Tage später erschien sie wieder, schickte James in ein Labor und nahm Hannes mit zur Großglockigen. Sie wies ihn an, auf die Leiter zu steigen und erste Nektarproben aus einer der Blüten zu entnehmen. Oben, auf einer der höchsten Sprossen stehend, beugte er sich vor, einen Löffel in der Hand. Der Duft nach Vanille, Kakao und Zimt drang ihm derart in die Nase, dass ihn schwindelte. Gierig sog er den Atem ein.
„Nun machen Sie schon“, kam es von unten.
Er lehnte sich weiter vor, eine Hand an der Leiter und blickte in den Kelch, wie in einen Löwenrachen. Vanilleblau und Purpurzimt stiegen ihm zu Kopf. Alles fing an sich zu drehen. Ihm war, als ziehe Zimtblau und Vanillepurpur an ihm, gegen deren Kräfte er sich nicht wehren konnte, nicht wehren wollte.
Etwas kippte. War es sein Körper oder die Leiter? Ein Sssss säuselte in seinen Ohren. Kopfüber rutschte er nach unten, wie auf Samt und landete in klebrig Weichem. Noch einmal öffnete Hannes seinen Mund,
bevor Farben, Töne, Samtenes und Düfte sich ineinander schoben, sich vermengten und auflösten in einem gleißenden Sirren.
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