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Genau wie damals

Von Klaus Walgenbach.

Manchmal, wenn ich nach Hause komme, erwarten sie mich. Wenn ich die Haustür aufschließe, liegen sie auf dem kalten Stein des Hausflures. In ihrer gespielten Trägheit wollen sie mich glauben machen, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Aber ich lasse mich nicht täuschen. Ich glaubte, sie seien fort, für immer. Doch seit ein paar Wochen sind sie zurück. Vielleicht liegt es daran, dass ich umgezogen bin. Ich wohne wieder in einem Haus mit sieben Nachbarn. Es sind also wieder acht Türen auf dem Hausflur, meine ist in der Mitte links. Genau wie damals.

Ich weiß, was mich erwartet. Ich habe gelernt, mich auf das Treffen mit ihr zu freuen. Vielleicht, weil ihr Zimmer, in dem wir beisammen sind, so spärlich möbliert ist, dass mir das Atmen hier leicht fällt. Ich erinnere mich an das erste Mal. Wollen wir uns gleich duzen, hat sie gefragt. Ich nickte. Rita, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. Die Art, bei Rita einzutreffen, hat sich fast zu einem Ritual entwickelt. Ich klingele pünktlich zur verabredeten Zeit. Sie öffnet, reicht mir die Hand und schickt mich in das Zimmer mit den zwei Sesseln, einer Standuhr und einem Tischchen, auf das ich meinen Wagenschlüssel lege. Rita erledigt noch irgendetwas in einem Nebenzimmer, die Geräusche verraten mir nicht, was. Dann betritt sie das Zimmer, schließt die Tür und setzt sich mir gegenüber in den Sessel. Der Sessel ist so groß, dass er sie fast verschluckt.

Ich habe mir eine List ausgedacht. Ich schließe die Haustür auf, öffne sie einen Spalt und schätze zunächst die Gefahr ab. Mal sind sie zu dritt, mal zu viert und an schlechten Tagen sogar zu fünft. Wenn es nur drei sind, versuche ich es mit einem Überraschungsmoment. Ich reiße die Haustür auf, springe so schnell ich nur kann an ihnen vorbei, bis zum ersten Treppenabsatz. Nicht umdrehen. Keine Zeit verlieren. Weiter nach oben zu meiner Wohnungstür in der Mitte links. Den passenden Schlüssel halte ich schon in der Hand. Ich weiß, was hinter meinem Rücken passiert. Ich weiß, dass sie sofort die Verfolgung aufnehmen. Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Ich frage mich, wie es wird, wenn ich älter werde.

Rita ist mäßig hübsch und trägt meist hochgeschnürte Lederstiefel, die mich an die Schaufensterauslagen eines Orthopädiegeschäftes erinnern. Sie lächelt mich an, sagt kein Wort. Ich fühle mich gut aufgehoben in ihrem Blick. Ich schaue eine Weile zurück. Mich sofort in Worte zu flüchten, halte ich für eine Schwäche. Also schweigen wir eine Zeitlang. Bis ich dann nicht anders kann. Rita weiß genau, dass ich irgendwann als erster das Wort ergreife. Sie weiß auch, dass ich erst irgendetwas erzähle, Unverbindliches, etwas, das nichts von mir preisgibt. Vielleicht sage ich auch, dass die letzten Tage nicht besonders ereignisreich waren und es nichts zu erzählen gebe. Das bringt sie nicht dazu zu antworten oder etwas von sich aus zu erzählen. Sie arbeitet mit der Stille, die mich irgendwann in die Ecke meines Sessels drückt, bis ich die ersten Worte hochwürge, die mir im Magen liegen. Und dann sage ich: Sie sind wieder da, sie liegen wieder im Flur und warten auf mich, genau wie damals.

Wenn sie zu fünft sind, hilft mir auch das Überraschungsmoment nicht. Ich schließe die Haustür wieder leise und warte, bis einer meiner Nachbarn nach Hause kommt. Meinen Nachbarn wollen sie nichts Böses. Im Gegenteil, sie schieben sich beiseite, machen Platz, um nicht im Weg zu liegen. Und genau das ist meine Chance. Ich grüße, halte meinem Nachbarn die Tür auf, und gehe dicht hinter ihm her. Komischerweise treffe ich immer nur Nachbarn aus dem Erdgeschoss an. Und es ist jedes Mal ein Mann. Am Anfang waren diese Nachbarn misstrauisch, drehten sich irritiert nach mir um. Jetzt, wo sie mich ein wenig kennen, denken sie sich nichts mehr dabei. So komme ich wieder unbehelligt bis zum ersten Stock. Aber dann höre ich schon die Geräusche der fünf hinter mir. Meine Beine werden schwer, immer schwerer, je näher sie kommen.

Und dann, was passiert dann, fragt mich Rita. An dieser Stelle werde ich immer wach, sage ich. Wenn die Krokodile kurz davor sind, mich zu fressen, wache ich auf, schweißgebadet und zitternd. Rita notiert sich etwas auf ihrem Zettel. Den Traum hast du in deiner Kindheit geträumt und dann erst wieder nach deinem Umzug, fragt sie. Ich nicke. Dann sagt sie, ich werde dich von deinem Albtraum befreien, da gibt es einen Trick. Sie lächelt. Du wirst deinen Traum jetzt in Gedanken zu Ende träumen; lass es zu, dass die Krokodile dich einholen. Ich schließe meine Augen und lasse mich fallen, bis ich sie spüre. Alle fünf sind gekommen, jetzt sind sie hinter mir, ganz nahe, und das größte von ihnen hat sein Maul aufgerissen, weit und gierig. Ich spüre seine spitzen Zähne, ich schreie. Es hat mir in die Hand gebissen, sie abgebissen, es kriecht mit meiner Hand schmatzend davon. Ich schreie noch immer. Bis Ritas Stimme an meinem Ohr ist. Und jetzt, sagt sie, halte den anderen die andere Hand hin. Dann sind sie alle fort, für immer. Du hast deinen Traum in deinen Gedanken zu Ende geträumt, du bist geheilt.

Bildquelle: (c) DA

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