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Vampire sind auch nur Menschen

Von Björn Kamlah.

Ich schlenderte auf einer Demonstration umher. Eine Demonstration für Flüchtlinge. Gute, brave Menschen überall. Eingezäunt von Prügelbütteln. Unbemerkt eingezäunt wohlgemerkt. Ich schlenderte hier hin, ich schlenderte dort hin.

Plötzlich blieb um mich herum die Zeit stehen. Einfach so. Nicht nur die Zeit, auch der Raum schien still zu stehen. Der Wind, der einen vorher sanft umwehte, stand nun da wie eine Wand.

Wehende Haare standen von den Köpfen der, meist, Frauen oder Mädchen ab, wie fixiert mit abertausend Dosen Haarspray.

Und da sah ich ihn.

Ein Mann bewegte sich, wie ich, durch die festgefrorene Menge. Anscheinend zielstrebig ging er auf einen der Flüchtlinge zu.

Mich schien er nicht zu bemerken. Ich befand mich in seinem Rücken.

Der Flüchtling hatte vorher eine Rede gehalten, in kaum zu verstehendem deutsch. Irgendwas von Folter und Tod und all so was. Ich hatte nicht hingehört, war eh kaum zu verstehen und bestimmt auch nicht anders, als die anderen Reden an diesem Abend.

Der Mann stand jetzt direkt vor dem Flüchtling, ganz nah, und machte irgendwas. Ich konnte es nicht sehen. Langsam und vorsichtig bewegte ich mich etwas zur Seite, um zu erhaschen, was dort vor sich ging.

Da ich immer noch nichts sehen konnte, bewegte ich mich immer weiter und irgendwann aus dem toten Winkel des Mannes heraus.

Endlich konnte ich sehen.

Den Flüchtling gab es nicht mehr. Der war zerronnen zu einer Pfütze, die auf dem Asphalt waberte; wie Quecksilber nur in tausend Farben.

Und diese Masse floss langsam auf den Mann hinzu, an ihm hinauf und durch seine Nase, in ihn hinein.

Da ich mich immer weiter um den Mann herumbewegt hatte, bemerkte mich dieser. Die Augen größer werdend, starrte er mich an, zuerst erschrocken, dann ängstlich, dann freudig.

Solange diese Masse in ihn hineinkroch, schien er sich nicht bewegen zu können. Doch als der letzte Tropfen durch die Nase geschlüpft war, eilte er auf mich zu.

Die Zeit lief weiter. Der Wind wehte, die Haare flogen, die Prügelbüttel prügelten.

„Was bist du“, fragte mich der Mann. „Bist du wie ich?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete ich. „Ich habe das zum ersten Mal gesehen. Du hast den Flüchtling aufgesogen. Und wie hast du das mit der Zeit gemacht?“

„Du musst nicht essen?“, fragte der Mann.

„Ist es das, was du da gemacht hast? Dich ernähren? Von Menschen?“

„Ja, so mache ich es schon lange. Jeden Tag einen. Und je interessanter das Leben des Menschen, umso schmackhafter.“

Ich betrachtete den Mann genauer. Die rabenschwarzen Haare waren kurz geschoren und er war glattrasiert. Klein war er, noch kleiner als ich. Und doch von einer Zähigkeit, die man selten sieht. Drahtig und kraftvoll, aber doch filigran und sanft.

Dunkle Augen, wie ein Abyssus, die mich nun freudig anstrahlten.

„Und was heißt lange?“

„Schon sehr lange. Schon seit den Römern und seit den Griechen. Sogar die Sumerer habe ich gesehen. Schönes Volk.“

„Ich glaub dir kein Wort.“

„Ich kann die Zeit stillstehen lassen und du glaubst mir nicht?“

„Mich konntest du nicht stillstehen lassen.“

„Stimmt. Das habe ich noch nie gesehen. Weißt du was du bist? Bist du wie ich?“

„Wie ich schon sagte, dass weiß ich nicht. Ich habe so etwas auch noch nie gesehen. Und jemanden wie dich auch nicht.“

„Ich bin froh dich getroffen zu haben. Endlich kann ich mich jemandem zeigen, wie ich bin; was ich bin. Magst du mit mir wandern und wenn auch nur ein bisschen? Seit Jahrtausenden bin ich allein und hab mir schon so oft Gesellschaft gewünscht.“

Ich willigte ein und so wanderten wir um die Welt. Wir wanderten hier hin und dort hin. Ohne Eile, einfach einen Schritt vor den anderen. Für uns nur ein paar Tage, für die Menschen Dekaden.

Und die Welt, sie blieb so wie immer, Krieg hier, Krieg da, Religiöse Fanatiker hier, Epidemien da. Demokratie, Diktatur, Tyrannei, Revolution, Demokratie. Immer wieder der Kreislauf solange Geld und Gier hier herrschen.

Jedes Mal, mit jeder Demokratie, die Hoffnung es wird besser, doch es wird nie besser. Sie wird immer verraten, von innen. Von Bewahrern, konservieren wollen sie, sagen sie, erdrosseln sie aber, langsam, wie die Hummer im zuerst kalten Wasser, bis es zu spät ist.

Und wir beide wandern. Und jeden Tag ernährt sich mein Gefährte. Jeden Tag ein Mensch.

Ich fragte ihn wie er sie auswählt.

Er meinte, zuerst habe er einfach immer den erst Besten genommen. Als er merkte, dass sie unterschiedlich schmeckten, immer den berühmtesten.

Aber er bemerkte auch, dass dadurch, nicht immer, aber meist, die Welt auch ärmer wurde, da zu diesen Zeiten die weisesten Männer und Frauen die berühmtesten waren.

Mit der Zeit gewann er Geschmack an geschundenen Menschen. Menschen die viel erlitten hatten. So konnte er sich einreden, er störe den Lauf der Menschheit nicht mehr und erlöse die Gequälten auch noch.

„Habe ich dir schon von den punischen Kriegen erzählt?“

„Schon drei Mal.“

„Oh, wirklich? Was würde dich denn interessieren?“

„Weißt du, jetzt wo du mich so fragst, eigentlich nichts mehr. Zumindest nichts mehr, was du mir erzählen könntest.“

Ich ließ die Zeit stillstehen, und den Raum, und die Materie und alles.

Auch mein Gefährte stand still. Nur seine Augen wanderten mit mir mit. Und ich konnte seine Gedanken hören.

„Du sagtest, du wüsstest nicht, was du bist!“, dachte er.

Während ich ihn langsam und genüsslich zerteilte, um ihn für mein Mahl vorzubereiten, hielt ich kurz inne.

„Ich habe gelogen!“, gab ich ihm noch mit auf dem Weg, bevor sein letzter Funken erlosch.

Bildquelle: (c) DA

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